Dienstag, April 22

Eine Mutter und ihre erwachsene Tochter treffen in Kristine Bilkaus neuem Roman unvermittelt für längere Zeit aufeinander. Alte Konflikte brechen auf, ehe sich Neues anbahnt.

Da ist die Erinnerung, an eine Angst, die Annett nicht loswird, sobald sie an das Aufwachsen ihrer Tochter Linn zurückdenkt, an die Momente etwa, als diese mit anderthalb Jahren waghalsig eine Treppe hochkletterte. An dieser Sorge hat sich auch nach knapp einem halben Jahrhundert wenig geändert. Annett ist mittlerweile Ende vierzig, arbeitet in einer Bibliothek und lebt in einem 1300-Seelen-Dorf auf einer Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer. Ihre vierundzwanzigjährige Tochter Linn hingegen hat nach dem Studium gerade in Berlin eine Stelle angetreten, in einer Beratungsfirma, die sich um die Förderung und Finanzierung von Umweltprojekten kümmert.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Kristine Bilkaus Roman «Halbinsel» – jüngst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet – setzt mit einem Schockmoment ein. Linn ist bei einem Vortrag mit einem Kreislaufkollaps zusammengebrochen. Annett holt sie im Krankenhaus ab und nimmt sie mit in ihr Wattenmeerhäuschen. Eine Woche lang soll die Tochter zur Ruhe kommen, daraus werden schliesslich vier Monate, die voller unterschwelliger Auseinandersetzungen sind.

Aushilfsjob in der Dorfbäckerei

In mitunter zähen, von leisen Vorwürfen grundierten Gesprächen versuchen die beiden, sich einander anzunähern, und rufen – ein paar aufgefundene Kartons tragen dazu bei – Erinnerungen wach. Vor allem an Johan, Linns Vater, der fast zwanzig Jahre zuvor beim Joggen zusammenbrach und völlig überraschend starb. An seiner Präsenz in Annetts Gedanken hat sich in all der Zeit nichts geändert.

Kristine Bilkau versteht es vorzüglich, das Gefühlsgeflecht ihrer Protagonistinnen nuanciert zu durchdringen, keine Veränderung, keine Verdrängung ausser acht lassend. Nach und nach stellt sich heraus, dass Linn kurz vor ihrem Vortrag ihre Berliner Stelle gekündigt hat, unzufrieden mit dem, was ihr Arbeitgeber ausser schönen Worten für den Klimaschutz leistet. Was sie künftig tun will, weiss sie nicht. Sie geht ihrer Mutter anfangs aus dem Weg, zieht sich antriebslos in ihr Zimmer zurück und nimmt einen Job in der Dorfbäckerei an. Die aufstrebende Wissenschafterin als Graubrotverkäuferin – das übersteigt die Vorstellungskraft der entsetzten Mutter.

Annett vermag sich mit ihrer mütterlichen Fürsorge kaum zurückzuhalten. Sie leidet mit ihrer Tochter, will alle möglichen Gefahren von ihr abwenden und gibt nicht immer erbetene Ratschläge – ein Muster, das Linn durchschaut: «Wie du das schon früher nicht aushalten konntest, wenn ich mal traurig oder erschöpft war. Das hat dich angestrengt. Da war ein ständiger Antrieb. Ein unterschwelliger Druck.» Mutter und Tochter liefern sich ein Gefecht, keines, das eskaliert, und doch eines, das alte Wunden schonungslos aufreisst.

Kristine Bilkaus Roman ist klug, stimmig konzipiert und unternimmt zugleich eine Gratwanderung. Denn es ist nicht einfach, Linns Engagement für den Klimaschutz in den Plot zu integrieren, ohne dass der Eindruck entsteht, die Autorin wolle gutgemeinte Botschaften unter die Leute bringen.

«Halbinsel» entgeht dieser Gefahr fast immer und vor allem darum ganz souverän, weil die nordfriesische Landschaft kein blosses Dekorum ist. Wie Linn schon als Jugendliche animierte Weltkarten im Internet studierte, um zu sehen, welche Teile ihrer Heimat in ein paar Jahrzehnten überflutet würden, so werden beim Wandern durchs Watt alte Mythen hochgeschwemmt – zum Beispiel die sagenumwobene Siedlung Rungholt, die im 14. Jahrhundert unterging und von Detlev von Liliencron in seiner Ballade «Trutz, blanke Hans» verewigt wurde.

Ein neues Leben

Nach vier Monaten ungewohnter Zweisamkeit stehen Linn und Annett an Wegscheiden ihres Lebens. Die neuen Erfahrungen haben vieles klarer gemacht. Vor allem die in sich gekehrte Annett muss sich entscheiden, was sie künftig tun will. Immerhin wagt sie einen Schritt aus ihrem Schneckenhaus heraus, als sie auf eine Wohngruppe im Nachbarhaus zugeht. Zunächst betrachtet sie argwöhnisch deren Mitglieder, die in den Tag hineinleben und mit Entrümpelungsaufträgen ihr Geld verdienen. Doch allmählich fragt sie sich, ob deren Gelassenheit nicht erstrebenswert sein könnte. Dass Annett dann kurzerhand mit einem jungen Mann der Gruppe ins Bett geht, kommt freilich etwas überraschend.

«Halbinsel» ist ein kluger, gerade in seiner Zurückhaltung aktueller Roman, dessen Stil, der typische, reduzierte Bilkau-Sound, das Verborgene und Unausgesprochene geschickt zwischen die Zeilen platziert. Die Weite des Wattenmeers spiegelt die Weite des Romans.

Kristine Bilkau: Halbinsel. Roman. Luchterhand-Verlag, München 2025. 224 S., Fr. 34.90.

Exit mobile version