Am Anfang der Moderne steht die Aufforderung: Sei du selbst. Doch die Gesellschaft der Individuen wurde zur Mehrheitsgesellschaft. Und begann, die auszuschliessen, die nicht so sind wie die anderen.

Das Wort Aussenseiter ist von bestechender Klarheit. Es hält nichts zurück. Es übersetzt die tausend Einzelheiten des Zusammenlebens in eine überschaubare Szene: in das räumliche Gegenüber von innen und aussen. Bildstark erinnert es daran, wie elementar für alle Menschen die Frage ist, ob sie dazugehören oder nicht. Die Frage ist unausweichlich. Dabeisein ist alles, das gilt für jedes Lebensalter und jedes Geschlecht.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Zugehörigkeit ist etwas Absolutes, nicht Verhandelbares. Der «Aussenseiter» steht quer zu diesem Verlangen. Jenseits der Selbst- und Wunschbilder der Menschen ruft allein schon das Wort Aussenseiter die rauen Sitten einer Gesellschaft auf, die nicht so ist, wie sie selbst sich gern sieht: In der sozialen Wirklichkeit sind die Reflexe, Menschen auszuschliessen, wesentlich robuster als die Ideale von Solidarität und Inklusion, die in feierlichen Erklärungen beschworen werden.

Laut Online-Statistiken ist der Gebrauch des Begriffs Aussenseiter in letzter Zeit rückläufig. Das Wort hat etwas Verräterisches, Entlarvendes. Nicht überall ist sein herber Realismus willkommen. Im Haushalt der Gefühle ist Unverblümtheit so ziemlich das Gegenteil dessen, was Soziologen schon vor Jahren als «Leitmotiv der nächsten Gesellschaft» kommen sahen: die fraglose Bereitschaft, das eigene Verhalten dem Verhalten der vielen anzugleichen und sich anzupassen.

Konformismus ist eine Vorleistung, ist Teil eines Deals. Er soll einen davor bewahren, plötzlich und ohne dass man sich dessen versieht, als Aussenseiter dazustehen. Wie aber ist es dahin gekommen? Woher stammt die Furcht vor der Aussenseiterschaft? Und vor allem: Was ist überhaupt ein Aussenseiter?

Der eigene Verstand

Dass die Frage der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit Einzelner gestellt werden kann, setzt eine bestimmte Umgebung voraus: eine Umgebung, die nach solcher Klarstellung verlangt. Dieses Verlangen nach einer klaren Entscheidung kam auf mit der modernen, aus dem Zeitalter der Französischen Revolution hervorgegangenen Gesellschaft.

Das Neue dieser Gesellschaft war ihr erklärter Anspruch, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Nachdem das höchste Wesen, das in vormoderner Zeit für die Ordnung der Dinge eingestanden war, vom Atheismus der Revolutionäre neutralisiert worden war, fiel die Verantwortung für die Stabilität der Gesellschaft der neuen, postrevolutionären Gesellschaft zu.

Daraus gingen zwei Tendenzen hervor, die bis heute nicht zu einem dauerhaften Ausgleich gefunden haben. Auf der einen Seite stand die Ermutigung an jeden Einzelnen, sich, wie Kant schrieb, «ohne Leitung eines andern» seines «eigenen Verstandes zu bedienen». Auf der anderen Seite beharrte die aus der Revolution hervorgegangene Gesellschaft auf ihrem Anspruch auf Dominanz. Sie behielt sich die Entscheidung in Fragen der Zugehörigkeit vor.

Um diesen Anspruch nicht nur juristisch, sondern auch weltanschaulich zu unterlegen, griff die neue Gesellschaft auf bewährte sprachpolitische Mittel zurück. In direkter Nachfolge des «Pluralis Majestatis», dessen sich die europäischen Herrscherhäuser bedient hatten, begann die moderne Gesellschaft von sich selbst als einem Wir zu sprechen, das in der Art eines höchsten Wesens über Schicksale entscheidet.

Die Emphase des Wir

Die seit der Französischen Revolution politisierte Emphase des Wir setzte ein dualistisches, zur Polarisierung neigendes Weltbild frei: Es gibt neben uns, die wir selbstverständlich dazugehören und uns mit unseresgleichen einig wissen, auch die Anderen. Die, die nicht so sind, nicht so fühlen und nicht so denken wie wir.

Das Wir proklamiert als zentrale Botschaft den Zusammenhalt, mit anderen Worten: sich selbst. Diese Proklamation kommt aber kaum je ohne das Wörtchen «gegen» aus. Diese Strategie, so paradox sie scheinen mag, hat sich als erfolgreich erwiesen. Das Wir definiert die Normalität. Und es definiert sie, indem es ab- und ausgrenzt. Indem es auf die weist, die anders sind.

Zum Aussenseiter ist disponiert, wer diese Normalität verfehlt. Der Aussenseiter ist jedoch nicht einfach nur anders. Was ihn von anderen Randfiguren unterscheidet– den Unterdrückten, Entrechteten und Vergessenen –, ist seine Sichtbarkeit. Aussenseiter sind sichtbar, als Abweichler, und zwar mit dem Zusatz: ohne für die Abweichung eine anerkannte, für die Umgebung akzeptable Erklärung anzubieten.

Sinnfällig dargestellt findet sich diese Figur in einer Erzählung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: Herman Melvilles «Bartleby, der Schreiber». Der Plot dieser Erzählung ist einfach. Melville schildert den Eintritt eines neuen Mitarbeiters in ein Anwaltsbüro, dessen soziales Gefüge ihm verschlossen bleibt. Mehrfach reagiert er auf Anweisungen mit einem Satz, der ihn berühmt gemacht hat: «I would prefer not to» – Ich möchte lieber nicht.

Fehlende Loyalität

Was die Kollegen an diesem Satz befremdet, ist seine Unergründlichkeit. Bartleby stellt keine Forderungen, er hat kein Programm, vertritt keine Organisation. Der einzige Wunsch, den er vorbringt, hat die Form einer Verneinung: Er möchte lieber nicht.

Es ist die Unfassbarkeit dieses Nichtwollens, das die moderne, an der Vorstellung des Wir ausgerichtete Idee des Sozialen überfordert. Das Verständnis der Gesellschaft ist schnell erschöpft, wenn die Betreffenden, statt den Erwartungen entgegenzukommen und sich zu den Regeln der Gesellschaft zu bekennen, sich darauf beschränken, diejenigen zu sein, die sie für sich selber sein wollen.

Bezeichnend für dieses Unverständnis ist der Augenblick, als Bartleby die Unterstellung korrigiert, dass er sich weigere. Indem Bartleby präzisiert, dass er nicht möchte, tritt er als Prototyp des Aussenseiters hervor. Charakteristisch für ihn sind nicht die Gesten des Widerstandes, der Blockade oder des Klageführens. Charakteristisch ist vielmehr der lapidare Ausdruck des Empfindens, dass das Verlangen, welches die Gesellschaft an ihn heranträgt, das verfehlt, was ihm und seiner Person gemäss wäre.

Herabsetzende Bezeichnungen für diese Haltung waren, wie Melvilles Erzählung zeigt, bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet. Seither wurden sie, unter reger Beteiligung der für das Soziale zuständigen Wissenschaften, fortlaufend ergänzt und aufgefrischt: toxisch, egozentrisch, rebellisch, pathologisch, renitent, modernisierungsfeindlich. Die Gefühlsgeladenheit dieser Sprache spricht für sich. Aus der Warte derer, die das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft schon von Berufs wegen teilen, ist Aussenseiterschaft ein Zeichen fehlender Loyalität.

Der tägliche Kampf

Melville deutet die Ausweglosigkeit von Bartlebys Lage an, wenn er in der Form eines Gerüchtes mitteilt, der Schreiber, der lieber nicht mochte, sei nach zeitweiliger Einweisung in eine Anstalt gestorben. Erstaunlich angesichts dieser Tragik ist der Umstand, dass im Lauf des 20. Jahrhunderts eine zu dieser Ausweglosigkeit gegenläufige Option aufgekommen ist: Mit der Ausbreitung der Pop-Kultur ging eine triumphale Umwertung der Aussenseiterschaft einher.

Dem ersten Anschein entgegen reisst die Pop-Kultur die Grenzen zwischen drinnen und draussen keineswegs nieder. Sie bespielt sie nur anders. Die Welt des Pop ist prall gefüllt mit Skandalen und Provokationen, die allesamt Lehrstücke sind, an denen das Verhalten der vielen sich ausrichten kann. In einer dünnhäutigen, hart und schnell urteilenden Umgebung bewähren sich diese Aussenseiter als freie Dienstleister, die auf offener Bühne agieren und sich den Blicken der Gesellschaft preisgeben.

Das öffentliche Ausleben der Exzentrik ist die authentische Kulturleistung des Pop. Die Pop-Kultur stellt die Bühne bereit, auf der Tag für Tag der Kampf um das Statthafte und gerade noch Erträgliche ausgefochten wird.

Für das grosse Publikum sind vielfach weniger die Werke der Exponenten der Pop-Kultur von Belang – als Hervorbringungen, die über den Tag hinaus Bestand hätten. Für viele Menschen ist vielmehr das von Belang, was sich aus dem manchmal grenzwertigen Auftreten und Treiben der Celebrities lernen lässt. Manche spielen die popkulturellen Posen ihrer Idole nach, färben sich die Haare blau oder lassen sich martialische Tattoos stechen.

Der Traum der Geborgenheit

Das damit gefundene Modell einer durch bestimmte Zeichen signalisierten Aussenseiterschaft hat seinen Weg in die Mode gefunden, ebenso in die Kunst, mittlerweile auch in die Wissenschaft und die Politik. Inzwischen gibt es unter den medial Präsenten eine wachsende Zahl von Menschen, die ihre Etablierung dem sorgfältig gepflegten Image verdanken, nicht zu den Etablierten zu gehören.

Gewiss, die Pop-Kultur hat sich im Lauf der Zeit verändert. Der Weg, der von den Exzessen und Gefühlsausbrüchen eines Jim Morrison oder den derben Spässen eines Frank Zappa zu den artig vorgetragenen Harmlosigkeiten eines Harry Styles geführt hat, ist weit. Aber gerade die Bandbreite dieser Spielformen, die Zeitgemässes und Unzeitgemässes durcheinanderwirbeln, ist bemerkenswert. Mit all ihren Verästelungen lebt die Pop-Kultur eine Form von Zugehörigkeit vor, die den Traum der Geborgenheit in einem geschlossenen Miteinander aufgegeben hat und dem eben noch Unvorstellbaren Raum gibt. Aussenseiterschaft ist ein Abseits, aber auch eine Bühne.

Am Beginn der Moderne, noch vor ihrer totalen Politisierung, stand der Entwurf eines Zusammenlebens, das auf Freimütigkeit setzt. Es war die Idee der Aufklärung, dass die Gesellschaft über die bedingungslos geförderte Bildung und die freie Entfaltung eines jeden Einzelnen zu selbstbestimmten Formen des Lebens, des Denkens und des Verhaltens finden werde. Der neuerliche Kult des Wir und der Gemeinschaft droht dieses Erbe zu verspielen.

Ralf Konersmann ist Publizist und emeritierter Professor für Philosophie der Universität Kiel. Im April erscheint bei S. Fischer sein Buch «Aussenseiter. Ein Essay».

Exit mobile version