Donnerstag, August 21

In einer hinterlassenen Gedichtsammlung ruft der 2013 verstorbene Schriftsteller Fragmente aus dem Leben in Erinnerung. Daraus ist ein bewegendes Vermächtnis entstanden.

Eine fast fertige Gedichtsammlung lag auf Giorgio Orellis Schreibtisch, als der Tessiner Dichter im November 2013 im Alter von 92 Jahren starb. Sogar der geplante Buchtitel stand bereits auf dem Deckblatt. In Anlehnung an einen Vers aus Dantes «Divina Commedia» lautete er: «L’orlo della vita». Oder «Am Rande des Lebens», wie sein langjähriger Übersetzer Christoph Ferber den Band nun auf Deutsch überschrieben hat.

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Der Buchtitel ist in mehrfacher Hinsicht programmatisch. Einmal natürlich wegen Dante, der für Giorgio Orellis Werk eine eminente Rolle gespielt hatte. Es war Orellis letzte Verneigung vor dem Ahnherrn italienischer Dichtung und Sprache. Und gewiss liegt ein Hintersinn auch darin, dass das Zitat aus dem zweiten Teil der «Divina Commedia» stammt, aus dem «Purgatorium». Orelli wusste, was er tat, seinen Gedichten eignet der Gestus einer Konfession.

Sie stellen allerdings keine Beichte im klassischen Sinne dar, sie sind nicht zum Zwecke der Läuterung in der Stunde des Todes geschrieben, eher dienen sie, am Rande des Lebens, der stillen Selbstbefragung. Der Dichter schaut im Augenblick des Abschieds zurück. Als wollte er Bruchstücke des Lebens in Erinnerung rufen. Vater und Mutter kommen vor, seine Enkel, selbst zufällige Begegnungen, ebenso Flora und Fauna. Mit anderen Worten alles, was ihm im Leben und in Gedichten so wichtig war wie vielleicht nicht einmal Dantes Verse.

Im Angesicht des Todes verhandeln diese Gedichte letzte Dinge. Doch es sind nicht die grossen Fragen nach dem Sterben, Orelli wälzt nicht die elegischen Gedanken eines Melancholikers. Eher strahlen die Gedichte die Heiterkeit dessen aus, der sich stets in Gelassenheit und Bescheidenheit geübt hat.

Eine Epoche geht zu Ende

Sein Leben lang sah man Giorgio Orelli in Bellinzona mit dem Fahrrad, auch wenn er es mit zunehmendem Alter in den steil ansteigenden Strassen seines Viertels häufiger stossen musste. In seinen Gedichten macht er sich darüber ganz unbefangen lustig. Und wenn er einmal in einem Gespräch mit dem Rundfunk darüber nachdachte, was von ihm dereinst bleiben würde, dann dachte er nicht an sein Werk, aber mit Freude an seine Kinder und Enkel. Es würde ihn verwundern, wenn man ein Jahrzehnt nach seinem Tod noch immer über ihn und seine Dichtung redete.

Nur drei Jahre nach Giorgio Orelli starb auch sein Cousin Giovanni Orelli, der ein ebenso bedeutender Dichter war. Beide wussten, dass mit ihnen eine Epoche zu Ende gehen würde. Sie kamen von den Alten her und hatten – jeder auf seine Weise – die Dichtung der italienischen Schweiz in die Moderne geführt: Gelehrt waren sie beide, Giovanni verband seine Dichtkunst mit Schalk, Giorgio mit Noblesse. Sie wussten, woher sie kamen. Und weil sie schon zu Lebzeiten mit beiden Händen weitergegeben hatten, was ihnen in Jahrzehnten des Dichtens zugefallen war, brauchten sie sich um ihre Nachfolger keine Sorgen zu machen. Auch deswegen gibt es nirgends in der Schweiz auf so wenig Raum so viele Dichter. Die meisten kommen auf den unterschiedlichsten Wegen von den beiden Orellis her.

Ihre Nachfahren kennen noch heute – und vielleicht sogar mehr denn je – jene Erfahrung, die im Titel von Giorgio Orellis hinterlassener Gedichtsammlung ebenfalls mitschwingt. «Am Rande des Lebens» heisst auch: ein Leben an den Rändern zwischen den Kulturräumen. Wollen Tessiner Dichter bekannt werden, müssen sie in Italien gelesen werden. Das gelingt nicht allen gleichermassen. Und wollen sie in der übrigen Schweiz gelesen werden, müssen sie in Übersetzungen auf Französisch oder Deutsch erscheinen. Das geschieht, aber nicht mehr mit gleicher Intensität, wie es beispielsweise noch Alberto Nessi erlebt hatte: Sein erster Erzählband erschien 1983 in deutscher Übersetzung noch vor dem Original.

Zu den herausragenden Lyrik-Übersetzern dieses Landes gehört Christoph Ferber, der seit vielen Jahren in Sizilien lebt und auch aus dem Französischen und Russischen überträgt. Ohne ihn wüssten wir von den Tessiner Dichtern wenig. Umso schwerer wiegt, dass er immer grössere Mühen hat, für seine Übertragungen Verlage und Geld zu finden.

In Gesellschaft von Spinnen

Wie virtuos und eigenwillig er übersetzt, zeigt er nun auch in Giorgio Orellis hinterlassenen Gedichten, die beim Limmat-Verlag in gewohnt zweisprachiger Edition erschienen sind. Doch vor Orellis Lautmalereien bleibt sogar er manchmal ratlos. Im Eröffnungsgedicht erzählt das lyrische Ich, wie es seit Tagen, ja Monaten zwei kleinste Spinnen an der Zimmerdecke beobachtet: «inquilini abusivi del soffitto, / strani compagni della mia vecchiaia: / sempre lì, sempre soli, senza preda». Man hört und sieht in den vielen «i» förmlich die steifbeinigen Spinnen. Das Schwebende gelingt Ferber besser als das Musikalische: «an der Decke unbefugt wohnend, / merkwürdige Gefährten meines Alters: / immer da, immer beutelos, immer allein».

Die Zeilen zeichnen ein Selbstporträt des Dichters, nur sollte man ihm die Verse nicht als Larmoyanz auslegen. Es sind vielmehr zarteste und gleichwohl poetisch prägnante Beobachtungen, mit denen Orelli an das Werk der Spinnen erinnert, die seit Ovids Arachne als Schutzpatrone von Dichtern und Künstlern gelten. Zugleich zeigen die wenigen Verse auch den immer enger werdenden Lebenshorizont des Alters.

Wiederum ist der Gedanke an den Tod nicht das zweifelhafte Privileg des Alters. Schon dem jugendlichen Orelli sind Todesahnungen begegnet. Davon erzählt eine lyrische Erinnerung an einen heimlichen Bootsausflug mit Freunden ans andere Ufer des Lago Maggiore. Auf der Rückfahrt kommt plötzlich ein Sturm auf. Den Buben wird es wind und weh: «Keiner von uns lachte, ich konnte nicht schwimmen.»

Und schliesslich versteht sich auch der noble Giorgio Orelli wie sein Cousin auf den Schalk, gerade dort, wo er auf der Schwelle zwischen Leben und Tod steht. Der Anblick einer «Alten», die versonnen «wie eine violette Schwertlilie» an einer Mauer steht, entlockt ihm eine Sottise: «Vom Jenseits aus gesehen ist das Leben: / lebendig». Dann zählt er auf, was «lebendig» heisst: «froh, süss, selig und heiter, / schmutzig, verwöhnt, unehrlich, rein, / schön, tief, verlogen, blind, boshaft / und kurz . . .» Es sieht so aus, als müsste man, einmal im Jenseits, das Ende des Lebens nicht bedauern.

Eines jedoch bedauert man: dass Christoph Ferber nicht die Kühnheit besass, das hinterlassene Manuskript integral herauszugeben. Vielleicht ein halbes Dutzend Gedichte hat er weggelassen, dafür vier weitere aus dem Nachlass hinzugenommen. Mögen auch ein paar schwächere Texte in der Sammlung gewesen sein, die ungekürzte Wiedergabe des Manuskripts hätte dies längst aufgewogen. Das hätte vielleicht nicht den letzten Willen dokumentiert, aber den letzten unvollendeten Stand. Gleichwohl vergegenwärtigt der Band ein bewegendes dichterisches Vermächtnis von Giorgio Orelli.

Giorgio Orelli: Am Rande des Lebens. L’orlo della vita. Gedichte aus dem Nachlass. Italienisch und Deutsch. Ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber. Mit einem Nachwort von Pietro de Marchi. Limmat-Verlag, Zürich 2025. 128 S., Fr. 41.90.

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