Samstag, Oktober 5

Eine Studie zeigt: Besonders Kantonalbanken ritzen bei der Hypothekenvergabe vermehrt die Regeln. Die Finanzmarktaufsicht redet den Instituten ins Gewissen. Die Geldhäuser aber zeigen sich unbesorgt.

Die hohen Preise für Immobilien erschweren vielen Haushalten die Verwirklichung ihres Wohntraums – doch der Wunsch nach den eigenen vier Wänden ist ungebrochen. Familie Somm* ist ein Paradebeispiel dafür: Sie investierte kürzlich 1,3 Millionen Franken in ein hübsches Reiheneinfamilienhaus am Stadtrand von Winterthur.

Trotz der finanziellen Belastung schätzt sie die Ruhe, den Blick ins Grüne und ist voller Freude, endlich ein Zuhause zu besitzen, das sie ihr eigen nennen kann.

Eine Geschichte mit Happy End, könnte man meinen. Doch der Fall wirft ein Schlaglicht auf ein Phänomen am Hypothekarmarkt, das in der Öffentlichkeit selten zur Sprache kommt: Die Familie Somm hat den Kredit erhalten, obwohl sie aufgrund ihres Einkommens die Tragbarkeitsanforderungen eigentlich nicht erfüllt.

Die von der Bank kalkulierten Kosten eines Eigenheims dürfen bekanntlich nicht mehr als ein Drittel des verfügbaren Bruttoeinkommens ausmachen. Eigentlich hätte Familie Somm also länger sparen oder ein billigeres Haus kaufen sollen – doch die Bank drückte ein Auge zu.

Banken weichen Richtlinien auf

Die Somms erhielten den Millionenkredit aufgrund einer Ausnahmebewilligung. «Exceptions to Policy» (ETP) nennt sich das im Bankenjargon. Das heisst, dass der Eigenheimkäufer mindestens eine zwingende Bedingung für die Hypothekenvergabe nicht erfüllt.

Der Fall der Familie Somm ist gemäss Branchenexperten typisch: Ihr Einkommen ist zu tief, um die langfristigen Kosten des Hauses gut tragen zu können. Trotzdem gewährt die Bank den Kredit.

Eine neue Deloitte-Studie auf Basis einer Befragung von Kreditverantwortlichen bei Banken und Versicherungen zeigt: Die Zahl der Ausnahmebewilligungen steigt, inzwischen liegt diese Quote bei 12 Prozent aller Hypotheken.

Diese Entwicklung ist die direkte Folge der stark gestiegenen Immobilienpreise. In den letzten 20 Jahren sind diese deutlich schneller gestiegen als die Löhne, die Konsumentenpreise und das Bruttoinlandprodukt. Je stärker sich die Preise für Häuser und Wohnungen von anderen Indikatoren entkoppeln, desto grösser ist die Versuchung für Banken, die Regeln zu umgehen. Das Ziel, weiter Umsatz im Kreditgeschäft zu erzielen, geht dann auf Kosten des Risikomanagements.

So kommt es auch regelmässig vor, dass die Banken die Belehnungsquote auf über 80 Prozent des Kaufpreises erhöhen und einen höheren Kredit gewähren, als streng genommen erlaubt wäre. Oder sie rechnen Gelder zum Eigenkapital, die streng genommen keine echten Eigenmittel darstellen, zum Beispiel Darlehen von Verwandten. Eine typische Verletzung liegt auch vor, wenn ein Kunde die vorgeschriebenen Amortisationen nicht zahlen kann.

Laxe Kreditpolitik der Kantonalbanken

Die Hypothekenstudie von Deloitte zeigt, dass etliche Banken ihre internen Kreditrichtlinien ausreizen. Eine Zahl sticht dabei besonders hervor: Die Kantonal- und Regionalbanken vergeben 19 Prozent ihrer Hypotheken unter bewusster Überschreitung von mindestens einer internen Richtlinie. Sie weisen in ihren Portfolios überdurchschnittlich viele Hypotheken auf, die bei der Tragbarkeit über dem Limit sind. Sie alle fallen unter «Exception to Policy».

Die Tragbarkeitsregeln halten immobilieninteressierte Bankkunden nicht davon ab, ihr Glück zu versuchen. Bei rund 30 Prozent der Kreditanfragen bei Kantonalbanken liegt die Tragbarkeit über der oben erwähnten Ein-Drittel-Regel.

Die Zahlen lassen sich so interpretieren, dass die Kantonal- und Regionalbanken Geschäfte machen, von denen andere die Finger lassen würden. Die Finanzierung eines Eigenheims gehört für diese Finanzinstitute zum Kerngeschäft – und sie legen grossen Wert auf eine enge Kundenbindung.

Versicherungen und Privatbanken sind vorsichtiger bei der Vergabe von Hypotheken. Privatbanken vergeben Hypotheken meist nur auf Anfrage, ohne grosses Marketing. Grossbanken machen deshalb weniger Ausnahmen, weil sie die Prozesse effizient gestalten und Skaleneffekte nutzen wollen.

Offenbar wollen die Kantonal- und Regionalbanken ihren Expansionskurs im Hypothekarbereich unbeirrt fortsetzen. Im Durchschnitt rechnen die Teilnehmer der Deloitte-Studie mit einem Marktwachstum von 2,2 Prozent pro Jahr – leicht tiefer als in den Vorjahren. Die Kantonal- und Regionalbanken wollen aber mehr zulegen: Sie haben sich 3 Prozent Wachstum zum Ziel gesetzt.

Ein Sprecher des Verbandes Schweizerischer Kantonalbanken sagt, dem Verband liege keine Übersicht zu Tragbarkeitsrisiken vor: «Die Kantonalbanken verfügen aber über eine sehr gute Kapital- und Reserveausstattung.» Mit anderen Worten: So schnell geraten die Institute nicht in Schieflage. Die ZKB schreibt, sie habe letztes Jahr ein Wachstum von 4,2 Prozent erzielt. Sie halte aber an ihren «hohen Qualitätsstandards» in Bezug auf Schuldner und die finanzierten Liegenschaften fest.

Die Finma spricht ein ernstes Wort

Die Finanzmarktaufsicht (Finma) sieht die Sache kritischer. Die Behörde erachtet eine Korrektur im Immobilien- und Hypothekarmarkt nach wie vor als eines der Hauptrisiken für den Finanzplatz. «Die Folgen einer Immobilienkrise für den Schweizer Finanzmarkt wären erheblich», betont eine Finma-Sprecherin.

Stresstests der Finma zeigen die Dimensionen auf: Im Fall einer schweren Immobilienkrise könnten bei den Banken Verluste im zweistelligen Milliardenbereich entstehen. Bei einigen Banken würden die für die Hypotheken gehaltenen Eigenmittel nicht ausreichen, um Verluste in dieser Höhe zu tragen.

Die Finma redet den Finanzinstituten ins Gewissen: «Der hohe Anteil an Krediten ausserhalb der eigenen Vergabekriterien widerspricht im Geist der Selbstregulierung der Branche, die vorsieht, dass eben ETP-Geschäfte die Ausnahme darstellen sollten.»

Ausfälle nehmen zu

Die Studie von Deloitte zeigt auch: Die Risiken nehmen deutlich zu. Bis Ende Jahr ist mit einem Anstieg der Kreditausfälle zu rechnen. Diese Quote liegt derzeit mit 0,5 sehr tief. Die Experten rechnen mit einer Zunahme auf 0,8 Prozent.

Der neueste Bericht Finanzmarktstabilität 2024 der Schweizerischen Nationalbank (SNB) liefert weiteres Anschauungsmaterial zur Risikosituation: Für 20 Prozent der Privathaushalte wäre die Hypothek nicht mehr tragbar, falls die Hypothekarzinsen auf 3 Prozent steigen. Das heisst: Ihr Einkommen würde nicht reichen, um die zwingenden Bankstandards für einen Hauskredit noch zu erfüllen.

Je nach Bank und Vertrag wäre eine Bank dann sogar berechtigt, die Hypothek zu kündigen. Noch düsterer sieht die Tragbarkeit bei Privaten aus, die zu Anlagezwecken Wohnungen gekauft haben: Hier könnte ein hoher Anteil von 29 Prozent ein Zinsniveau von mehr als 3 Prozent nicht verkraften.

Die Banken sind verpflichtet, die Ausnahmebewilligungen zu dokumentieren und zu begründen. Sie sind auch Teil der von der Finma durchgeführten Überprüfungen. Bei erhöhten Risiken kann die Finma Massnahmen ergreifen und zum Beispiel Kapitalzuschläge verlangen.

Wenig Schutz gegen steigende Zinsen

Die neusten Kennzahlen aus dem Hypothekenbereich deuten ebenfalls auf steigende Risiken hin. Weil sich Festhypotheken letztes Jahr verteuert haben, wechselten sehr viele Hypothekarnehmer in die günstigeren Saron-Hypotheken.

Diese sind sehr kurzfristig finanziert und bieten keinerlei Sicherheit gegen das Risiko eines Zinsanstiegs. Laut dem SNB-Bericht entschieden sich 2023 bereits 40 Prozent der Kunden, auf eine Zinsanbindung zu verzichten, und wählten extrem kurze Laufzeiten von weniger als sechs Monaten.

Es erstaunt daher nicht, dass die seit Jahren anhaltenden Warnungen vor übermässigen Risiken und ungesunden Wachstumsambitionen am Immobilienmarkt lauter werden. Denn mit einem Volumen von rund 1200 Milliarden Franken ist der Hypothekarmarkt definitiv «too big to fail».

*Name von der Redaktion geändert

Exit mobile version