Mittwoch, Oktober 9

Er gilt als «britischer Bill Gates» und exzentrischer Geschäftsmann und wäre in den USA beinahe wegen Betrugsvorwürfen im Gefängnis gelandet: Nun hat die Geschichte von Mike Lynch ihre bisher dramatischste Wendung genommen.

Vor gut zwei Monaten erlebte Mike Lynch ein kleines Wunder. Vor einem amerikanischen Bundesgericht in San Francisco hatte sich der britische Tech-Milliardär wegen Vorwürfen des Betrugs und der Bilanzfälschung im Zusammenhang mit dem Verkauf seiner Firma Autonomy an Hewlett-Packard im Jahr 2011 zu verantworten. Dem 59-jährigen Vater zweier Töchter drohte eine Haftstrafe von 25 Jahren. Angesichts einer Lungenerkrankung standen die Chancen schlecht, dass Lynch eine Gefängnisstrafe überstehen und noch einmal unbeschwert in Freiheit leben würde.

In den USA gehen nur ein Bruchteil der vor einem Bundesgericht verhandelten Kriminalfälle zugunsten des Angeklagten aus. Doch zur Überraschung der meisten Beobachter sprachen die Geschworenen Lynch im Juni von allen Vorwürfen frei. Der Tech-Pionier konnte die elektronischen Fussfesseln ablegen und erhielt seine Kaution von 100 Millionen Dollar zurück.

In einem Interview mit der «Sunday Times» von Ende Juli verglich Lynch die Auslieferung von Grossbritannien in die USA und den dortigen Prozess mit einer Nahtoderfahrung. «Ich musste mich von allem und allen verabschieden, ich dachte nicht, dass ich je zurückkommen würde», erklärte er. «Es ist bizarr, aber ich habe nun ein zweites Leben. Die Frage ist, was willst du damit tun?»

Drei Wochen später wird Mike Lynch nach einem schweren Schiffsunglück in der Nacht auf Montag vor der Küste Siziliens vermisst.

Illustre Gäste auf der Luxusjacht

Der Tech-Milliardär war an Bord der Luxusjacht «Bayesian» gewesen, die nach einem Sturm mit sintflutartigen Regenfällen in der Nähe von Palermo gekentert war. Nach Angaben der italienischen Küstenwache waren zwölf Passagiere und zehn Besatzungsmitglieder an Bord. Fünfzehn Personen konnten gerettet werden. Mindestens ein Mensch – offenbar der Schiffskoch – kam ums Leben. Sechs weitere – darunter Mike Lynch und seine 18-jährige Tochter – galten auch am Dienstag noch als vermisst.

Die Luxusjacht gehörte Lynchs Frau, die gerettet und in ein Spital gebracht werden konnte. Unter den Gästen des Tech-Milliardärs befanden sich laut Medienberichten Chris Morvillo von der Londoner Anwaltskanzlei Clifford Chance und Jonathan Bloomer, Vorsitzender der Morgan Stanley Bank International, und dessen Frau.

Die illustre Reisegruppe zeigt, dass sich Lynch in Kreisen bewegte, in denen sich private Freundschaften und geschäftliche Interessen leicht vermengen. Gleichzeitig widerspiegelt das tragische Unglück auch das Leben von Lynchs, das von Anfang an einer Achterbahnfahrt glich.

Ein Gründer aus Cambridge

Lynch wurde im Jahr 1965 in Irland als Sohn eines Feuerwehrmanns und einer Krankenschwester geboren, doch wanderte die Familie kurze Zeit später nach Chelmsford in der Grafschaft Essex ausserhalb von London aus. Der Vater trieb Lynch den Berufswunsch aus, Feuerwehrmann zu werden und in «brennende Gebäude zu rennen».

Stattdessen schlug er einen akademischen Pfad ein, der für ein irischstämmiges Kind aus einfachen Verhältnissen nicht vorgezeichnet war. Doch Lynch war ein fleissiger Schüler mit einer ausgeprägten naturwissenschaftlichen Begabung. Er gewann ein Stipendium für eine Privatschule im Nordosten Londons und später einen Platz in der Eliteuniversität Cambridge, wo er Mathematik und Biochemie studierte.

Rasch entwickelte Lynch ein Interesse für Technologie und für Künstliche Intelligenz. Er absolvierte ein Doktorat im Gebiet der adaptiven Mustererkennung, die es Maschinen ermöglicht, in Datenmengen wiederkehrende Strukturen zu identifizieren. 1991 versuchte er, seine Erkenntnisse mit der Gründung von Start-Ups in die Praxis umzusetzen: So entstand die Firma Cambridge Neurodynamics, die sich auf computerbasierte Erkennung von Fingerabdrücken spezialisierte und diese Technologie an Polizeikräfte verkaufte.

Aus Cambridge Neurodynamics ging fünf Jahre später die Firma Autonomy hervor – das Lebenswerk von Lynch, aber auch der Grund für seine späteren juristischen Schwierigkeiten. Das Kernprodukt der Firma war in der Lage, sogenannte unstrukturierte Daten auszuwerten, die nicht in sauberen Tabellen, sondern in E-Mails, Video und Tonaufnahmen enthalten sind.

Britische Erfolgsgeschichte

Autonomy war eine britische Erfolgsgeschichte: Die Firma wurde in Cambridge gegründet, stieg nach dem Börsengang in London rasch in den Kreis der hundert grössten britischen Unternehmen (FTSE 100) auf und musste den Vergleich mit den Konkurrenten aus dem Silicon Valley nicht scheuen.

Lynch wurde von den Medien als «britischer Bill Gates» gefeiert und stieg in die höchsten Sphären der Gesellschaft auf. Er avancierte zum Wissenschaftsberater von Premierminister David Cameron, wurde ins Direktorium der BBC berufen und von Königin Elizabeth II. mit einem Order of the British Empire ausgezeichnet.

Bekannt war Lynch aber auch für seine exzentrische Seite. Den von ihm geführten Unternehmen drückte er kompromisslos den Stempel auf. Sitzungszimmer benannte er nach Bösewichten aus James-Bond-Filmen, und im Eingangsbereich von Autonomy liess er ein grosses Aquarium mit fleischfressenden Piranhas aufstellen. Als Privatmann stand Lynch derweil im Ruf, ein liebevoller Vater zu sein, der in seiner Freizeit Modelleisenbahnen baut und Karpfen züchtet.

Rechtsstreit nach Firmen-Verkauf

Der vermeintliche Höhepunkt von Lynchs Karriere im Jahr 2011 läutete auch den Beginn eines jahrelangen juristischen Abnützungskampfs ein. Die amerikanische Firma Hewlett-Packard (HP) kaufte die Firma Autonomy für 11 Milliarden Dollar. Kaum ein Jahr später schrieb HP 8,8 Milliarden Dollar des Werts wieder ab – und warf den Autonomy-Verantwortlichen vor, schwerwiegende buchhalterische Unregelmässigkeiten begangen und Falschangaben gemacht zu haben.

Das Zerwürfnis hatte einen jahrelangen Rechtsstreit zur Folge, der zu Zivilklagen in Grossbritannien und Strafklagen in den USA führte. Der ehemalige Finanzchef von Autonomy, Sushovan Hussain, wurde 2018 im Zusammenhang mit dem Verkauf der Firma an HP wegen Betrugs zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe in den USA verurteilt.

2022 kam ein britischer Richter zum Schluss, dass Lynch vom Gebaren seines Finanzchefs gewusst haben musste und HP Schadenersatz schulde. Die Höhe des Betrags muss der Richter erst noch bestimmen. Doch erklärte Lynch jüngst gegenüber der «Sunday Times», dass ihm dies nach dem Freispruch in den USA und der Rückerlangung seiner persönlichen Freiheit keinerlei Bauchschmerzen mehr bereite.

Neben Lynch auf der Anklagebank in Kalifornien sass Stephen Chamberlain. Auch der ehemalige Vizefinanzchef von Autonomy wurde in allen Anklagepunkten freigesprochen. Es wirkt in der unglaublichen Geschichte des Mike Lynch wie ein besonders makaberer Zufall, dass Chamberlain am Samstag in der britischen Grafschaft Cambridgeshire bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Eine 49-jährige Frau fuhr den joggenden Chamberlain mit dem Auto an – wenige Stunden nur, bevor Lynchs Luxusjacht in den Fluten des Mittelmeers versank.

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