Das Kreischen der Säge beim Entfernen eines Rhinozeros-Horns vergisst man nie. Mitzuerleben, was es braucht, um die Natur Afrikas zu erhalten, ist ein Privileg. Ein Besuch im südafrikanischen Phinda-Wildtierreservat.
Es heisst, der afrikanische Himmel sei einer der schönsten, weil er so weit sei und so klar. Doch wer auf Safari geht, will vor allem Tiere sehen, am liebsten die Big Five: Elefant, Nashorn, Löwe, Leopard und Büffel. Sie sind nach wie vor die Stars der Savanne. Dabei gibt es viele andere, weniger spektakuläre Arten. Afrikanische Wildhunde etwa mit ihren putzigen Jungen. Oder schwarze Dungkäfer, die eifrig eine Mistkugel vor sich herrollen, die mindestens das Doppelte ihrer Körpergrösse umfasst. Und Erdmännchen, die wegen ihres aufrechten Gangs und ihres pfiffigen Gesichtsausdrucks eine verblüffende Ähnlichkeit mit uns Menschen haben.
So oder so, eine Safari gehört zu den Reiseerlebnissen, welche die Seele berühren. Die afrikanische Wildnis zieht denn auch trotz Klimawandel und Flugscham jedes Jahr Scharen von Gästen an. Die gute Nachricht: Ein sorgsamer, gut regulierter Tourismus – insbesondere im hochpreisigen Sektor – schafft Einheimischen eine Lebensgrundlage und kann bedrohte Wildtierarten und ihre Lebensräume schützen. Denn die Wilderei nimmt zu, wenn die Touristen wegbleiben, Corona hat das gezeigt.
Der Auszeit einen Sinn geben
Was allerdings den wenigsten Gästen bewusst ist: Es braucht eine Menge Arbeit hinter den Kulissen, damit ihr Safari-Erlebnis hält, was der Buchungsprospekt versprochen hat. «Ich stelle jedoch fest, dass es immer weniger Safari-Touristen genügt, im 4×4 durch die Gegend zu fahren», sagt Simon Naylor, seit sechzehn Jahren Naturschutzmanager des Phinda-Wildreservats in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal. «Es wird ihnen wichtiger, ihrer Auszeit einen Sinn zu geben. Sie wollen sich in der Natur nützlich machen.»
Im privat geführten Phinda-Reservat können Gäste bei einem Teil der anfallenden Arbeiten dabei sein oder sogar mithelfen – gegen Bezahlung, versteht sich. Etwa bei der Wiederansiedlung von Pangolinen, den prähistorisch anmutenden Schuppentieren. Oder beim Chippen oder Enthornen von Nashörnern. «Ganz toll ist, wenn die Gäste nachher Bilder auf Social Media teilen. Damit machen sie die Problematik des Wilderns und des Naturschutzes einem breiteren Publikum bekannt», sagt Naylor. Das Geld, das durch solche Aktivitäten eingenommen wird, fliesst in Naturschutzprojekte.
Die Sonne wirft lange Schatten auf die Veranda der Phinda Mountain Lodge, einer der sechs Luxuslodges im Reservat. Naylor trinkt seinen Morgenkaffee. «Wir sind hier zwar mitten in der Wildnis», sagt er und zeigt auf drei Antilopen, die ein paar wenige Meter entfernt grasen. «Aber man darf nicht vergessen: Um das ganze, knapp dreissig Hektaren grosse Reservat zieht sich lückenlos ein mehrere Meter hoher Elektrozaun.» Dieser soll Wilderer fernhalten und Tiere daran hindern, zu entkommen. Einigen gelingt es trotzdem. Leoparden und Hyänen etwa können sich unter dem Zaun hindurchgraben. «Man könnte sagen, Phinda sei eine Art Freiluftzoo», scherzt Naylor.
Ein solcherart eingezäuntes Landstück ist ein empfindliches Ökosystem. Es braucht viel Aufwand, um es im Gleichgewicht zu halten. Um Inzucht zu vermeiden, werden Tiere in andere Reservate oder Parks umgesiedelt. Wissenschafter und Ranger dokumentieren laufend die Bestände der Fauna und der Flora. Invasive, gebietsfremde Pflanzen werden ausgerottet, und mit kontrollierten Bränden versucht man Waldbrände zu verhindern und die Verbuschung zu bekämpfen. Weil es immer wieder starke Regenfälle oder extreme Trockenzeiten gibt, müssen Zäune, Strassen und Dämme regelmässig gewartet werden.
Mitarbeiter überwachen das Reservat von Anti-Wilderei-Türmen herab. Der Zugang wird vom Sicherheitspersonal kontrolliert. Eine Herausforderung besteht darin, dass eine öffentliche Strasse das Gebiet durchquert. Immer wieder gibt es Wilderer, die diese Durchfahrtsmöglichkeit nützen, um einzudringen. «In den meisten Fällen ist dann jemand von innerhalb des Reservats involviert, der hilft», sagt Naylor und seufzt. Um herauszufinden, ob die mehr als fünfhundert Mitarbeiter an irgendwelchen illegalen Aktionen beteiligt sind, führt Phinda jedes zweite Jahr einen Lügendetektor-Test durch. Jeder muss sich den Fragen stellen, auch Naylor.
Manche Pangoline haben Glück
Ein paar Stunden später lenkt Naylor seinen Jeep durch den dichten Busch. Äste knacken, Blätter rascheln, Holz reibt sich quietschend an Metall. «Clivia wird uns schon lange hören können», sagt der Naturschutzmanager. Clivia ist ein junges Pangolin-Weibchen. Es kennt das alles schon von anderen Malen: Man wird es hochheben, untersuchen und schliesslich in eine Tragtasche stecken, um es zu wägen. «Gerade habe ich es noch geschafft zu entkommen!», scheint Clivia zu frohlocken, als sie husch, husch zu einem Erdloch flitzt. Doch bevor sie darin verschwinden kann, packen sie zwei Hände, und sie findet sich in einer festen Umarmung an Naylors Männerbrust wieder.
Clivia gleicht einem überdimensionierten Tannzapfen mit vier kräftigen, kurzen Beinen, einem langen Schwanz und einer spitzen Schnauze. Diese skurrilen Säugetiere sind in den letzten Jahren zum Hauptziel von Wilderern geworden. Sie werden lebend gehandelt. Ihre Schuppen finden in China und Vietnam als Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten Verwendung, obwohl es keine wissenschaftlichen Beweise für ihre Wirksamkeit gibt. Das Fleisch von Pangolinen gilt in mehreren asiatischen Ländern als Delikatesse, und der Verzehr ihrer Föten ist zu einem Statussymbol geworden. Pangoline gehören zu den am stärksten bedrohten Säugetieren der Welt.
Einige Pangoline haben Glück, so wie Clivia. Zwar fiel auch sie Wilderern in die Hände, doch diese wurden gefasst und die Beute beschlagnahmt. Clivia kam nach Johannesburg, in eine Auffangstation für Pangoline. Dort wurde sie aufgepäppelt und vor gut zwei Monaten nach Phinda weitervermittelt, wo sie freigelassen wurde. Hier ist sie nun Teil eines Wiederansiedlungsprogramms, mit dem Pangoline vor dem Aussterben gerettet werden sollen.
Clivia war anfangs ausserordentlich nervös, rannte wild umher, immer in Richtung Johannesburg. Doch mittlerweile ist sie ruhiger geworden. Das lässt sich an den beiden Satelliten-Peilsendern ablesen, die an ihren braunen Schuppen angebracht sind und laufend Daten übermitteln. Sie zeichnen auf, wo sich Clivia gerade befindet und wie sie sich bewegt. Und da man sie immer wieder einfängt und wägt, kennt man auch ihr Gewicht. «6,845 Kilo sind es heute, sie hat etwas zugenommen», sagt Simon Naylor zufrieden und löst die Stofftasche samt Clivia vom Haken der Waage. «Ein Pangolin kann bis zu 20 Kilo wiegen.» Dann befreit er Clivia aus der Tasche und setzt sie behutsam auf den Boden. Eilig macht sie sich davon.
Vision einer besseren Welt
«Wir waren unter den Ersten, die Schuppentiere in einem Gebiet wieder ansiedelten, in dem sie ausgestorben waren», sagt Naylor. «Das passt perfekt zu Phinda, denn der Name bedeutet auf Zulu ‹Rückkehr›.» Gemeint ist damit die Wiederherstellung des Zustands, in dem Zebras, Elefanten, Antilopen und Löwen über Tausende von Jahren zwischen den Ausläufern der Lebombo-Berge und dem Indischen Ozean lebten. Ende des 19. Jahrhunderts begannen Farmer hier mit dem Anbau von Ananas, Sisal und Baumwolle. Sie hielten Rinderherden und züchteten Wildtiere für Hobbyjäger. Das Land wurde schnell überweidet, die Erde ausgelaugt. Die meisten Wildtiere starben aus.
Im Jahr 1991 begann die südafrikanische «andBeyond»-Gruppe ihr erstes Projekt auf diesem Landstück. Die Gründer hatten ein ehrgeiziges Ziel: Sie wollten das Land wiederherstellen und die Wildtiere wiederansiedeln. Die Finanzierung sollte durch Safari-Gäste erfolgen. Mit der Vision, die Welt durch Tourismus ein Stückchen besser zu machen, war «andBeyond» seiner Zeit voraus. Mittlerweile sind Nachhaltigkeit und Naturschutz weltweit wichtige Verkaufsargumente im Reisegeschäft. Leider aber, sagt Naylor, bleibe es oft bei Lippenbekenntnissen: Greenwashing ist ein wachsendes Problem, auch im afrikanischen Tourismus.
Heute, gut dreissig Jahre nach dem Start, leben im Wildreservat neben den Big Five auch seltene Arten wie Geparden, Pangoline oder Afrikanische Wildhunde sowie mehr als 380 Vogelarten. Die Pirschfahrten im offenen 4×4 führen über offene Savannen, durch Flussläufe, Feuchtgebiete und dichte Wälder, darunter 800 Hektaren des weltweit seltenen Sandwalds. Da Phinda privat geführt ist, können die Ranger abseits der Wege fahren und sich damit den Tieren auf wenige Meter nähern – anders als in staatlichen Nationalparks, in denen die Geländewagen und Busse mit wenigen Ausnahmen nur auf den Hauptwegen unterwegs sein dürfen.
Tierschutz mit der Kettensäge
Am nächsten Morgen sollen drei Breitmaulnashorn-Bullen narkotisiert und anschliessend enthornt werden. Es ist vier Uhr, als eine milchige Sonne über den Horizont kriecht. Zwei Dutzend Menschen, die meisten in Khakiuniformen, haben sich auf einer weiten Grasebene versammelt. Es sind Phinda-Mitarbeiter, Praktikanten, Volontäre, ein Tierarzt und die Angestellten einer Tiertransportfirma. Ein Helikopter kreist am Himmel. Naylor trifft als einer der Letzten ein. Kaum ist er aus seinem Jeep ausgestiegen, erhält er per Funk die Meldung: «Der erste Bulle wurde gerade getroffen.» Alle eilen zu dem Ort, an dem das narkotisierte Breitmaulnashorn liegt.
Es ist eines von drei Tieren, die vor kurzem im Rahmen eines Austauschprojekts von Kapstadt nach Phinda gebracht wurden. Sie waren die hohen Temperaturen in Phinda nicht gewohnt und legten sich ständig ins Wasser, um abzukühlen. Deshalb wurden sie von Zecken gebissen und von Fliegen attackiert. Bald war ihre Haut von schwärenden Wunden übersät. Mittlerweile sind sie ernsthaft krank und müssen dringend verarztet werden. Aber das ist nur möglich in Boma, einer befestigte Einzäunung innerhalb des Reservats, wo sie der Tierarzt regelmässig besuchen kann. Allerdings sind sie dort für Wilderer eine leichte Beute. Sie müssen geschützt werden, indem man ihnen das abnimmt, was für Wilderer wertvoll ist: das Horn.
Der mächtige Bulle liegt reglos am Boden. Die Wunden auf seiner Haut bluten. Man bindet ihm ein Tuch um die Augen und stösst ihm grosse Stoffstöpsel in die Ohren, um den Stress zu verringern. Dann wirft Naylor die Kettensäge an. Sie arbeitet sich kreischend ins Horn, weisse Späne wirbeln durch die Luft. Es riecht nach Verbranntem. Das Horn fällt zu Boden, dem Tier bleibt nur ein plumper Stumpf. Sein Horn wird wieder nachwachsen, wie Nägel und Haare besteht es hauptsächlich aus Keratin. Das abgeschnittene Stück wird registriert und nach Johannesburg gebracht.
Als alles vorbei ist, spritzt der Tierarzt ein Gegenmittel durch die ledrige Haut. Nach wenigen Minuten erwacht der Bulle aus seiner Betäubung. Dutzende Hände stossen und zerren an ihm, um ihn auf die Beine zu bringen. Er torkelt, schwankt. Schliesslich wird er in einen Schiffscontainer gezogen. Ein Kran hievt die Fracht auf den bereitstehenden Sattelschlepper. Dann entfernt sich das Fahrzeug langsam Richtung Boma.
Hörner von Nashörnern gelten in Asien als Heilmittel – unter anderem gegen Krebs und Impotenz – und als Statussymbol. Für ein afrikanisches Horn werden mindestens 20 000 Dollar erzielt pro Kilo. Die Nachfrage ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen, entsprechend hat auch die Wilderei zugenommen. «Besonders grausam ist, dass Wilderer die Hörner immer wieder auch am lebenden Tier absägen oder mit einer Axt oder einer Machete abhacken. Sie brauchen dafür gerade zwei Minuten. Das Nashorn geht danach an seinen grausamen Verletzungen elendiglich zugrunde», sagt Naylor.
Lieber ohne Horn als tot
Enthornen ist nur eine der Massnahmen, mit denen man gegen die Nashorn-Wilderei ankämpft. So hat man schon versucht, die Hörner mit Gift oder Farbe zu behandeln, um sie für den Markt unbrauchbar zu machen. Die Wilderer schossen die Tiere trotzdem und verkauften eben chemisch behandeltes Horn. Viel Hoffnung lag auch darin, den Nashorn-Handel zu legalisieren. Man stellte sich vor, die Tiere auf Farmen zu züchten, ihnen die Hörner abzusägen und diese legal zum Verkauf anzubieten. Dadurch sollte der illegale Handel reduziert und der Preis gesenkt werden. Für die Wilderer würde es sich dann kaum mehr lohnen, Nashörner zu töten.
Aber eine solche Legalisierung ist nicht spruchreif. Naylor erzählt von einem Bekannten, einem älteren Südafrikaner, der eine Nashorn-Farm aufbaute, weil er dachte, dass es nächstens mit dem legalen Verkauf losgehen werde. Heute besitzt er um die zweihundert Breitmaulnashörner, die er füttern muss. Er kann es sich nicht mehr leisten, für die Futterkosten aufzukommen, und sieht sich nun gezwungen, die Tiere an private Farmen zu verkaufen.
Auf Phinda hat man sich für das Enthornen entschieden. Seit 2016 wird etwa vierzig- bis fünfzigmal pro Jahr einem Nashorn das Horn abgesägt. «Wir nehmen den Tieren damit die Schönheit, wir entfernen ausgerechnet das, was ein Nashorn zum Nashorn macht», sagt Naylor bedauernd. «Aber lieber ein enthorntes Nashorn als ein totes.»
Naylor packt die Kettensäge ein und steigt in seinen Jeep. Er muss im Boma sein, wenn der Nashornbulle ausgeladen wird. Als sein Jeep um eine Kurve biegt, steht da mitten auf der Piste ein Leopardenweibchen. Naylor bremst ab und hält an. Von der anderen Seite nähert sich langsam ein Safari-Jeep mit drei Gästen. Der Fahrer bringt das offene Fahrzeug in Position und flüstert seinen Gästen zu, was er über Leoparden weiss. Ein guter Start für einen erfolgreichen Safari-Tag. Naylor grüsst, dreht den Schlüssel im Zündschloss und tritt aufs Gaspedal.
Phinda Impact Journey: Reisende können an Tierschutzaktivitäten des Reservats teilnehmen; https://www.andbeyond.com/small-group-journeys/phinda-impact
Das Phinda-Reservat kann mit dem Auto in sechs Stunden ab Johannesburg und in drei Stunden ab Durban erreicht werden. Ausserdem gibt es Charterflüge direkt zur Landepiste von Phinda.
Die Recherche wurde möglich durch die Unterstützung von «andBeyond».