In seinem Weltkriegsepos «Leben und Schicksal» zoog Wassili Grossman in dem er eine Parallele zwischen der Nazidiktatur und dem Stalinismus. Das Manuskript wurde vom russischen Geheimdienst beschlagnahmt. Auch seine «Armenische Reise» durfte in Moskau nicht erscheinen.
Das Buch «Armenische Reise» war ein Trostpreis für den sowjetischen Schriftsteller Wassili Grossman. Im Februar 1961 musste er die grösste literarische Niederlage seines Lebens einstecken. 1960 hatte er das Romanmanuskript zu seinem Weltkriegsepos «Leben und Schicksal» bei zwei führenden sowjetischen Literaturzeitschriften eingereicht. Es kam allerdings nicht zu einer Veröffentlichung, weil Grossman es in seinem Roman gewagt hatte, eine Parallele zwischen der Nazidiktatur und dem Stalinismus zu ziehen.
Zwar machte sich in der sowjetischen Kulturpolitik ein zaghaftes Tauwetter bemerkbar, es gab allerdings weiterhin rote Linien. Auf besonders schmerzhafte Weise erfuhr dies Boris Pasternak, der nach einer beispiellosen Hetze 1958 auf den Nobelpreis für seinen Roman «Doktor Schiwago» verzichten musste.
Sprachmächtig und hellsichtig
In der Causa Pasternak behielt der Kreml zwar die Oberhand, das Ansehen der Sowjetunion im Ausland hatte jedoch stark gelitten. Deshalb ging man bei Grossman behutsamer vor. Im Februar 1961 beschlagnahmte der Geheimdienst das Romanmanuskript. Danach lud Michail Suslow, der Chefideologe des Kremls, den Verfasser zu einem Gespräch ein, in dem er ihm erklärte, «Leben und Schicksal» könne «frühestens in zweihundert Jahren» in der Sowjetunion veröffentlicht werden.
Immerhin wurde die bittere Pille versüsst: Grossman erhielt den Auftrag, die russische Übersetzung eines armenischen Romans zu redigieren. Auf einer zweimonatigen Reise Ende 1961 konnte er sich selbst ein Bild von Armenien machen. Entstanden ist dabei ein ebenso sprachmächtiger wie hellsichtiger Bericht, der nun in der schnörkellosen Übersetzung von Christiane Körner erstmals auf Deutsch vorliegt.
Grossman beschreibt in der «Armenischen Reise» nicht einfach seine Eindrücke aus einer fremden Kultur. Er achtet genau auf die dramatische Komposition, er schürzt den Knoten gekonnt und wählt eine denkbar pikante Ringstruktur für seine Erzählung. Seine Reise beginnt und endet mit der verzweifelten Suche nach einer Toilette, weil der Genuss der exotischen Speisen die Verdauungsmöglichkeiten seines Darms sprengt.
Selten wurden die Epiphanie eines Aborts und die darauffolgende Erleichterung mit so feiner Ironie beschrieben: «Dichter und Schriftsteller versuchen seit Jahrtausenden auf Papier festzuhalten, was Glück ist . . . Es war ein stilles Glück, das dem Schaf, dem Stier, dem Menschen, der Meerkatze gleichermassen offensteht. Musste ich bis zum Ararat reisen, um es zu verspüren?»
Tief beeindruckt ist Grossman von der Dominanz der Steine in Armenien. Augenzwinkernd kommentiert er seine ersten Eindrücke von den allgegenwärtigen Felsen, die sich auf Geröllhalden erheben: «Manchmal wird ein grauer Stein lebendig, bewegt sich. Es sind Schafe. Auch sie entstammen Steinen und wahrscheinlich fressen sie Steinkrümel und trinken Steinstaub.»
Kleiner Sieg zum Trost
Der Aufenthalt in Armenien wird für Grossman eine existenzielle Erfahrung, die ihn gleichermassen mit Sterben und Leben konfrontiert. Nach einem Trinkgelage wacht er schweissgebadet in seinem Hotelzimmer auf und macht eine Nahtoderfahrung durch.
Ganz offensichtlich folgt hier Grossman ein weiteres Mal seinem Schriftstelleridol Leo Tolstoi. Bereits das Kriegsepos «Leben und Schicksal» hatte er bewusst nach dem Vorbild von «Krieg und Frieden» modelliert. Die Präsenz des Todes in Grossmans Armenien-Buch verweist auf Tolstois Erzählung «Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen». Hier verarbeitet Tolstoi seine Horrorerfahrung in einem Provinzhotel, als in der Nacht plötzlich der Tod in seinem Zimmer auftaucht und ihn anspricht.
Grossman wird Zeuge einer Hochzeit auf dem Lande, auf der zwei junge Menschen in einem strengen Ritual einen gemeinsamen Haushalt begründen müssen. Zu lachen gibt es für das Paar wenig, dafür feiern die Dorfbewohner umso ausgelassener. Die Trinksprüche arten in lange Reden aus, in denen aber nicht das Glück des Liebespaars im Vordergrund steht, sondern das jahrhundertealte Leiden des armenischen Volkes. Für Grossman ist klar: Gerade die schmerzhafte Erfahrung des Genozids von 1915 lässt die Armenier den Wert von Familie, Geburt und Leben besonders schätzen.
Stalinistische Erfahrung
Grossmans Erfahrung der Sowjetunion war im Wesentlichen eine stalinistische Erfahrung. Erst acht Jahre waren seit dem Tod des blutigen Tyrannen vergangen, als Grossman sich nach Armenien aufmachte. Bei der Ankunft in Erewan begrüsst ihn eine gigantische Stalin-Statue, die durch «Spenden» aus dem armenischen Volk errichtet worden war. Er notiert sich aus seinen Gesprächen nur ein Wort über den Diktator: «mama dsaghli» – «Hurensohn».
Entsprechend unpopulär war die Statue, über deren Zukunft man intensiv diskutierte. Ein alter Mann, der schon viele Machtwechsel erlebt hatte, schlägt vor, das Denkmal nicht zu zerstören, sondern nur zu demontieren: «Es wird vielleicht nochmals gebraucht, wenn es eine neue Regierung gibt, und dann müssen wir unser Geld nicht schon wieder hergeben.»
Eine Rache am sowjetischen Literaturbetrieb mochte sich Grossman jedoch nicht verkneifen. Am Ende seines Berichts lobt er die armenische Feinfühligkeit für den Holocaust und kontrastiert sie mit der offiziellen Tabuisierung des jüdischen Leidens in der Sowjetunion. Diese Kritik führte dazu, dass die «Armenische Reise» nur im fernen Erewan, nicht aber in Moskau erscheinen konnte. Für Wassili Grossman blieb es aber ein kleiner Sieg über den Staatsmoloch.
Wassili Grossman: Armenische Reise. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Christiane Körner. Claassen-Verlag, Berlin 2024. 206 S., Fr. 34.90.