Lange galt kein Hollywood-Darsteller als so hot wie der 34-Jährige. Das liegt nicht nur am Waschbrettbauch, der aussieht wie über den Grill gelegt.
Das Gesicht ist speziell. Jeremy Allen White hat kein typisches Schauspielergesicht. Schauspielergesichter zeichnen sich durch klar definierte Kinn- und Kieferpartien aus. Wichtig ist auch ein wacher Blick, der Entschlossenheit ausdrückt. Tom Cruise, DiCaprio, das sind Schauspielergesichter. Bei Jeremy Allen White hingegen fällt das leicht fliehende Kinn auf. Der Mund ist schmal, die kleinen Zähne sieht man kaum. Auch der Teint ist eher unvorteilhaft, blässlich.
Hinzu kommt der «Out of bed»-Look: Klar, beim Einsatz vor der Kamera entscheiden die Maskenbildner über das Styling, aber dieser Mann macht von Natur aus einen verstrahlten Eindruck. Eine notorische Überforderung steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Wenn man ihn mit einem Star vergleichen möchte, dann allenfalls mit Gene Wilder. White erinnert an den klassischen Filmkomödianten, bei dem man immer das Gefühl hatte, dass ihm alles zu viel ist. Nur, dass Gene Wilder damit spielte: Er nutzte den schusseligen Auftritt für die komödiantische Einlage. Jeremy Allen White wirkt nicht besonders lustig.
Dabei sind das ja die zwei Möglichkeiten, die man in Hollywood hat: Entweder man verfügt über die offensichtlichen Starqualitäten. Oder man geht selbstironisch damit um, dass man sie eben nicht besitzt. Das Besondere an Jeremy Allen White ist, dass er weder das eine hat noch das andere tut.
Trotzdem galt lange kein Hollywood-Darsteller als so hot wie der 34-Jährige. Das hat natürlich auch mit seiner laufenden Kampagne als Unterhosenmodel für Calvin Klein zu tun. Darin brilliert seine Bauchmuskulatur. Das Relief über den Leisten wirkt wie ausgestanzt. Die Haut gerillt wie ein Steak, das frisch vom Grill kommt. Keinerlei Fett. Vielleicht war das die Idee hinter der Kampagne von Calvin Klein: Denn wenn man White mit etwas assoziiert, dann mit Beef.
Ein Spitzengastro-Thriller
Original Beef of Chicagoland, so heisst die Sandwichbude in Chicago, die er als Spitzenkoch Carmy Berzatto in «The Bear» zum Fine-Dining umfunktioniert. Seit vier Staffeln ist er dran, die fünfte ist angekündigt. Konstant herrscht eine höllische Betriebstemperatur in der Restaurantküche, der Chef Carmy ist pausenlos am Rande des Nervenzusammenbruchs.
«The Bear» ist eine Serie, die ihre Spannung auch daraus zieht, ob es der Souschefin Tina (Liza Colón-Zayas) gelingen wird, die Cavatelli pomodoro in unter drei Minuten zuzubereiten. Spitzengastro ist ein Thriller, jede Sekunde zählt.
Oder man staunt über die Entwicklung des Chefpatissiers Marcus (Lionel Boyce), bei dessen Dessertkreationen bald einmal Birnenöl und Sushipapier zum Einsatz kommen. Aber die Gerichte sind Beigemüse. Es geht um eine dysfunktionale Küchencrew, die sich zusammenraufen muss.
Carmy leidet am meisten unter dem Stress. Gleichzeitig ist er es, der den Stress verursacht. Er braucht den Lärm, um die Unruhe in seinem Kopf zu übertönen. Seit sich sein Bruder umgebracht hat, ist er neben der Spur. Das ist die psychologische Disposition der Figur, die Jeremy Allen White hervorragend zum Ausdruck bringt.
Unverschämt blaue Augen
Stillsitzen kann Carmy nicht. Konnte auch der junge Jeremy Allen nicht. Der Bub aus Brooklyn hatte Mühe in der Schule, weshalb ihn die Eltern zum Sport schickten. Baseball, Fussball, Lacrosse, Wrestling. Er mochte alles. Am liebsten aber ging er ins Tanzen.
Und bei genauerer Betrachtung merkt man, dass es die Körperspannung ist, die ihn als Schauspieler auszeichnet. Carmy steht fest verankert im Auge des Sturms. Mit gestählten Bauchmuskeln. Während er gleichzeitig fragil wirkt, weil er so müde dreinschaut. Der Kontrast macht ihn aus.
Zentral sind dabei auch die Augen. Diese unverschämt blauen Augen, die treuherzig betteln können. Schon als Troublemaker Lip Gallagher in der derben TV-Serie «Shameless» (2011 bis 2021), die dem jungen Jeremy Allen White ein erstes festes Einkommen verschafft hat, schaute er so unschuldig aus der Wäsche, dass man ihm alles verziehen hat.
Und wenn er als Carmy nach einem brutalen Abend in der Küche draussen in der Gasse die wohlverdiente Zigarette raucht (bevor er auf Kaugummis umstellt in Staffel 3), will man ihn nur in die Arme schliessen. Mit der verschmierten Schürze und dem müden Blick: Da hat er plötzlich doch etwas von einem Star. Nicht einem glatten Gegenwarts-Hollywood-Star. Sondern einem Arbeiterklasse-Rebell, wie ihn James Dean früher verkörperte.
Und damit ist er prädestiniert für die anstehende grosse Aufgabe: Im Kinofilm «Springsteen: Deliver Me from Nowhere» (Kinostart ist im Oktober) wird White in der Rolle des Rockstars zu sehen sein, der sich 1982 mit seinen Arbeiterhymnen auf dem Album «Nebraska» einen Namen gemacht hat. Um die Entstehung dieser Platte soll es im Film gehen.
Rockstars sind Kinostoff
Musikerfilme sind schwer angesagt. Zuletzt gab es das Bob-Dylan-Biopic mit Timothée Chalamet, davor einen Film über Bob Marley. Robbie Williams war als Affe dargestellt in «Better Man»; «Elvis» lief in den Kinos, «Rocketman» über Elton John, «Bohemian Rhapsody» über Queen, die Beatles sind auch in Planung.
Dass zunehmend Musikerbiografien ins Kino kommen, ist nicht überraschend. Die filmische Kreislaufwirtschaft verwertet alles, was schon eine Fanbase hat. Das kann ein Superheld sein, Barbie oder Bruce Springsteen. Nun mag man hinter einem Kinofilm über einen Musiker den längeren Arm von dessen Marketingabteilung vermuten. Doch gerade bei Springsteen steckt hoffentlich mehr dahinter.
Denn inszeniert hat den Film Scott Cooper, der sich bereits in «Crazy Heart» (2009) mit einem grossartigen Folkrock-Film bewiesen hat. Und Jeremy Allen White macht in den ersten Ausschnitten einen phänomenalen Eindruck. Man kauft ihm den jungen Star, der sich erst noch finden muss, sofort ab. «Ich versuche etwas Wahres zu finden in all dem Lärm», das ist sein zentraler Satz als Bruce Springsteen im Trailer. Es ist ein Satz, der auch von dem Chef Carmy stammen könnte. Aus The Bear ist The Boss geworden.