Donnerstag, Januar 30

Am Donnerstag tritt das vom israelischen Parlament beschlossene UNRWA-Verbot in Kraft. Welche Folgen hat der Entscheid?

Roland Friedrich blickt auf ein grosses Plakat, das einen jungen Mann mit Hamas-Stirnband und umgehängtem Sturmgewehr zeigt. Am liebsten würde er so etwas nicht sehen, sagt der Uno-Diplomat auf der matschigen Hauptstrasse des sogenannten Balata-Flüchtlingslagers im Westjordanland. Doch sein Einfluss sei begrenzt: «Die UNRWA betreibt das Lager nicht, wir bieten hier nur Dienstleistungen in unseren Schulen und Kliniken an.» Das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) könne nicht kontrollieren, wer solche Plakate aufhänge.

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Balata in der palästinensischen Stadt Nablus ist das grösste von 19 sogenannten Flüchtlingslagern, in denen die UNRWA im von Israel besetzten Westjordanland einen Grossteil der öffentlichen Versorgung übernimmt. Einst standen dort Zelte für jene Palästinenser, die 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskriegs geflohen waren. Heute sind die «Flüchtlingslager» Quartiere mit festen, gedrängten Häusern aus Beton. Noch immer sind rund 900 000 der 3 Millionen Palästinenser in dem Gebiet offiziell als Palästina-Flüchtlinge registriert und haben Anspruch auf Leistungen der UNRWA. «Im Westjordanland sind wir eine Art Miniregierung», sagt Roland Friedrich beim Treffen vor einer Woche.

Wenn die UNRWA hier eine Miniregierung ist, dann ist Friedrich als der lokale Direktor des Hilfswerks der Regierungschef. Nun allerdings sind die Tage, an denen der Deutsche die «Flüchtlingslager» besuchen kann, vorbei: Am Mittwoch ist sein Visum abgelaufen. Friedrich befindet sich nun in Jordanien.

Das hat mit zwei Gesetzen zu tun, die das israelische Parlament Ende November beschlossen hat und die am Donnerstag in Kraft treten. Einerseits darf die UNRWA nun nicht mehr auf israelischem Boden arbeiten und muss ihr Hauptquartier in Ost-Jerusalem räumen. Andererseits ist israelischen Staatsbeamten fortan der Kontakt mit Vertretern der UNRWA verboten. Folglich kann das Palästinenserhilfswerk seine Arbeit kaum noch so ausführen wie in den Jahrzehnten zuvor. Die Konsequenzen für den Gazastreifen und das Westjordanland sind unabsehbar.

Der Terrorvorwurf

Bis zum 7. Oktober 2023 seien die Beziehungen zwischen der UNRWA und Israel gut gewesen, sagen Vertreter des Hilfswerks. Doch das Massaker der Hamas änderte alles. Israel wirft der UNRWA vor, dass Hunderte ihrer 13 000 Mitarbeiter im Gazastreifen am Terrorangriff beteiligt gewesen seien. Einige dieser Fälle sind zweifelsfrei belegt: So hat etwa der UNRWA-Mitarbeiter Faisal Naami die Leiche eines getöteten Israeli in den Gazastreifen verschleppt.

Die UNRWA bestreitet, strukturell von der Hamas unterwandert zu sein. «Die israelische Regierung hat uns im Juli eine Liste mit rund hundert Namen und ID-Nummern geschickt. Das war’s. Das ist kein Beweis für irgendetwas», sagt Roland Friedrich im Auto auf dem Weg nach Nablus. Wie alle anderen Reisenden muss auch der Hilfswerk-Direktor in der Kolonne vor dem israelischen Checkpoint am Eingang der Stadt warten. Es ist eine seiner letzten Reisen, bevor er Israel verlassen muss.

Laut Friedrich hat die UNRWA nach den Terrorvorwürfen sofort gehandelt. Als Israel das Hilfswerk im Januar 2024 darüber informiert habe, dass zwölf Mitarbeiter mutmasslich am Massaker beteiligt gewesen waren, seien diese sofort entlassen worden. Die Uno leitete zudem interne Untersuchungen ein, in deren Folge im August weitere neun Mitarbeiter entlassen wurden. Bei den betreffenden Personen «könnten Beweise darauf hindeuten – wenn diese authentifiziert und bestätigt werden –, dass die UNRWA-Mitarbeiter möglicherweise an den Angriffen am 7. Oktober beteiligt gewesen waren», sagte der UNRWA-Chef Philippe Lazzarini nach dem Ende der Ermittlungen.

«Dass die UNRWA als Organisation den Islamisten der Hamas nahestehen soll, ist ein absurder Vorwurf», sagt Friedrich. Die UNRWA sei in der Vergangenheit immer wieder mit der islamistischen Organisation aneinandergeraten. Die Hamas habe sich etwa darüber beklagt, dass in den Schulen des Hilfswerks Mädchen und Buben gemeinsam unterrichtet werden.

«Für die Menschen hier wäre es eine Katastrophe»

In Israel kann Friedrich mit seinen Erklärungen aber kaum jemanden überzeugen. Es existiert ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens, dass die UNRWA mit der Hamas verbandelt ist. Die Organisation wird zudem dafür kritisiert, die Palästinenser in eine ewige Abhängigkeit getrieben zu haben, indem sie auch den Kindern und Enkeln von Geflüchteten den Flüchtlingsstatus zuspricht.

«Die israelische Regierung geht davon aus, dass sie mit der UNRWA auch das Problem der Flüchtlinge aus der Welt schafft», sagt Friedrich. Das sei aber nicht der Fall, sagt Juliette Touma, die Kommunikationschefin der UNRWA, die neben Friedrich auf dem Beifahrersitz sitzt. «Der Status der Palästina-Flüchtlinge wurde in einer anderen Resolution der Uno-Generalversammlung festgeschrieben. Wenn die UNRWA abgeschafft wird, dann werden die Dienstleistungen für die Flüchtlinge abgeschafft. Sie werden leiden. Doch die Flüchtlinge werden genau denselben Status haben wie zuvor.»

Angekommen im «Flüchtlingslager» Balata steuert Roland Friedrich ein Gesundheitszentrum an. Dort stellt sich ein Mann als Dr. Haytham vor und führt die Besucher durch die Klinik. Seinen Nachnamen möchte der massige Mediziner mit dem kurzen grauen Bart und der Glatze nicht publiziert sehen. «Das ist die grösste UNRWA-Klinik im Westjordanland», sagt Dr. Haytham zwischen gestapelten Medikamenten im Erdgeschoss. In normalen Zeiten würden hier 450 Patienten täglich behandelt.

Seit Kriegsbeginn werde die Klinik aber noch häufiger frequentiert: «Wegen der Wirtschaftskrise.» UNRWA-Kliniken sind die einzigen Spitäler im Westjordanland, die ihre Dienstleistungen für registrierte Flüchtlinge umsonst anbieten. Für Privatkliniken und öffentliche Spitäler der Palästinensischen Autonomiebehörde müssen Patienten bezahlen. «Natürlich sind wir sehr besorgt», sagt Haytham. «Für die Menschen hier wäre es eine Katastrophe, wenn wir nicht mehr arbeiten könnten.»

Kann die UNRWA ersetzt werden?

Nun, da die israelischen Gesetze in Kraft getreten sind, dürfte sich zunächst allerdings nicht viel ändern. Alle palästinensischen UNRWA-Mitarbeiter wie Dr. Haytham werden weiterarbeiten können. Nur die internationalen Mitarbeiter müssen gehen. Wegen des Kontaktverbots mit israelischen Behörden können sie auch nicht wiederkehren. «Wir werden die Organisation zunächst ‹remote› führen», sagt Roland Friedrich. «Aber ein Dauerzustand ist das natürlich nicht.»

Davon geht auch Israel aus. Der jüdische Staat scheint sich des Palästinenserhilfswerks ein für alle Mal entledigen zu wollen. Langfristig werde die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Aufgaben der UNRWA im Westjordanland übernehmen müssen, sagt eine hochrangige israelische Quelle, die anonym bleiben will, gegenüber der NZZ. Im Gazastreifen würden sich andere Uno-Hilfsorganisationen und NGO um die humanitäre Nothilfe kümmern.

Friedrich hält das für unrealistisch. «Keine andere Uno-Organisation bietet direkte Dienstleistungen wie die UNRWA an», sagt er. «Alle anderen Organisationen arbeiten fast ausschliesslich mit Partnern zusammen und betreiben selbst keine Schulen, keine Kliniken.» Die PA habe selbst in besseren Zeiten nicht die finanziellen Möglichkeiten, die Schulen und Spitäler von UNRWA mit derselben Qualität der Dienstleistungen zu betreiben. Im Gazastreifen beschäftigt die UNRWA laut eigenen Angaben immer noch 5000 Angestellte, während andere Organisationen nur über rund 400 Mitarbeiter verfügen.

In der israelischen Regierung hält man diese Einschätzung für übertrieben. Von den 1,3 Millionen Schulkindern im Westjordanland würden nur 47 000 UNRWA-Schulen besuchen. Die PA könne die zusätzlichen Kinder beschulen, heisst es. Laut der israelischen Regierung ist die UNRWA zudem nur für 10 Prozent der Hilfslieferungen in den Gazastreifen verantwortlich. Der UNRWA-Chef Philippe Lazzarini sagte am Dienstag vor der Uno, dass seine Organisation seit Beginn des Waffenstillstandes 60 Prozent der Nahrungsmittel transportiert habe. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Womöglich mehr «Märtyrer» als ohnehin schon

Nach dem Besuch im Gesundheitszentrum stapft Roland Friedrich in Tweed-Sakko und roter Cordhose nach draussen. Dr. Haytham bittet ihn noch darum, dringend benötigte medizinische Geräte anzuschaffen. Friedrich nickt, macht sich Notizen und drückt dem Arzt die Hand. Auf der Strasse spricht er mit den umher rennenden Kindern in fliessendem Arabisch.

Manche der Gassen in Balata sind so eng, dass eine erwachsene Person nur knapp hindurch passt. Im Gewirr der kleinen Abzweigungen bleibt Friedrich vor einem Haus stehen, an dem ein Plakat mit dem Bild von zwei jungen Männern angebracht ist. Die beiden «Märtyrer», wie sie von Palästinensern genannt werden, waren wohl gerade einmal 18 Jahre alt, als sie vor kurzem von israelischen Soldaten getötet wurden. Sie sind mit Sturmgewehren abgelichtet, im Hintergrund ist der Felsendom in Jerusalem zu sehen.

Wie so viele «Flüchtlingslager» gilt auch das Balata-Camp als Nest von militanten Palästinensergruppen. Die bewaffneten Organisationen in den UNRWA-Camps werden laut Experten von Iran finanziell unterstützt. Mit dem Geld kaufen sie dann Waffen auf dem Schwarzmarkt und bezahlen junge Palästinenser dafür, Soldaten an Checkpoints oder israelische Siedler anzugreifen. In der Regel werden die Angreifer von der Armee oder bewaffneten Israeli, die sich verteidigen, getötet. Auch bei den Militäroperationen der israelischen Armee gegen die Hamas und andere Gruppierungen kommt es immer wieder zu Todesopfern.

«Diese jungen Männer sind wegen des Mangels an Stabilität, des Mangels an Hoffnung im Flüchtlingslager dafür empfänglich», sagt Friedrich, als er auf das Bild schaut. Die Gefahr besteht, dass sich die Situation mit der Umsetzung des UNRWA-Verbots verschärfen wird. In Balata würden dann weitaus mehr Bilder von «Märtyrern» zu sehen sein als ohnehin schon.

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