Montag, Januar 20

Der deutsche Regierungschef will sein Amt behalten und tourt durch die Bundesrepublik. Sonntagmittag ist er in Schwalbach am Taunus. Dort macht er allerdings nicht den Eindruck, das Ruder noch einmal herumreissen zu können.

Der Taunus ist ein Mittelgebirge in Hessen, eher Hügel als Berge. Sie erheben sich, kaum dass man Frankfurt am Main Richtung Norden verlassen hat. Eine der ersten Städte hinter der Main-Metropole ist Schwalbach, viel Beton und Hochhäuser vor sanfter Gebirgskulisse. Die Menschen hier haben sich ein Bürgerhaus gebaut, ebenfalls viel Beton, funktional im Innern, die Bühne mit einem roten Vorhang verhängt. Freundlich sind sie, höflich und nett, ein Heimspiel für Olaf Scholz, der gern Bundeskanzler bleiben würde und an diesem Sonntagmittag zum Wahlkampf nach Schwalbach gekommen ist.

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Zunächst läuft es nicht ganz so, wie sich das die Veranstalter von der Sozialdemokratischen Partei vorgestellt haben. Scholz hat Verspätung, das Publikum nimmt es gelassen. Viele Ältere sind darunter, aber auch sehr junge, eine von ihnen Annika Delor, 19 Jahre alt, im grauen Hoodie, in Jeans und weissen Sneakern. Die SPD sei nicht ihre erste Option, aber sie sei gespannt, was heute passiere, sagt sie. Bevor sie am 23. Februar ihre Entscheidung treffe, wolle sie sich erst einmal informieren. Die Wahl sei in ihrem Freundeskreis ein grosses Thema. Nur eines könne sie sicher sagen: Ein Votum für AfD und BSW schliesse sie aus.

Schwalbach liegt im Main-Taunus-Kreis, einkommensstark mit niedriger Arbeitslosigkeit und hohem Wohlstand. Seit Jahrzehnten hat die CDU hier eine Hochburg. Doch die Sozialdemokraten holten zuletzt immerhin 22 Prozent der Stimmen. Die AfD bekam in der Region bei Bundestagswahlen bisher kaum einen Fuss auf die Erde.

Als Olaf Scholz mit einer halben Stunde Verspätung endlich da ist, bekommt er genau zu diesem Punkt auch den mit Abstand meisten Applaus. Jemand fragt ihn, ob er sich eine Koalition mit der Linkspartei und dem BSW von Sahra Wagenknecht vorstellen könnte. Scholz erwidert, man müsse schauen, wer überhaupt in den Bundestag komme, das sei bei einigen gar nicht sicher. Aber sicher werde die SPD «nichts mit der AfD machen». Beim BSW habe er zudem Zweifel, ob diese Partei im Bund koalitionsfähig sei. Nato-Mitgliedschaft und Westbindung seien für ihn nicht verhandelbar.

So rockt man keinen Saal

Scholz, gekleidet in dunklem Anzug mit weissem Hemd ohne Krawatte, redet langsam, mitunter leise und monoton. Jemand, der einen Saal rockt, sieht anders aus. So ist die Veranstaltung allerdings auch nicht angelegt. Das Format nennt sich «Olaf Scholz im Gespräch», die Moderation hat Nancy Faeser, die deutsche Innenministerin, die ganz in der Nähe des Bürgerhauses wohnt. Schwalbach ist ihr Heimatort.

Faeser ruft diejenigen im Saal auf, die ihren Arm gehoben haben, weil sie sich zu Wort melden wollen. Es ist kaum eine konfrontative Frage dabei, eher Stichworte, die Scholz dankbar und in der Pose des Staatsmannes aufnimmt, der Deutschland sicher durch gefährliche Zeiten führt. So sieht er sich gern, so gibt er sich auf Wahlplakaten.

Das Verhältnis zu Donald Trump? «Cool bleiben und gucken, was passiert.» Aber ja, bei der Grönland-Frage habe er als Regierungschef des grössten europäischen Landes natürlich nicht schweigen dürfen. Wer sei denn sonst aufgerufen, sich dazu zu äussern, wenn nicht er, fragte Scholz. Trump hatte jüngst geäussert, Grönland müsse von Dänemark an die USA übergehen, und dabei auch den Einsatz von Militär nicht ausgeschlossen.

Lahmende Wirtschaft, sichere Renten? Scholz erwidert, Wladimir Putins Krieg in der Ukraine habe nicht nur dazu geführt, dass Deutschland mehr Geld in Sicherheit und die Unterstützung der Ukraine investieren müsse, sondern auch keine günstige Energie mehr aus Russland beziehen könne.

SPD und AfD gegen Merz und die Union

Die Ampelregierung habe deshalb Tempo gemacht beim Ausbau der erneuerbaren Energien. 2030 würden 80 Prozent des Stroms in Deutschland aus Windkraft, Solar und auf andere klimaschonende Weise erzeugt. Jahrelang habe die Union den Ausbau verhindert. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel habe internationale Verträge über Klimaziele unterzeichnet, deren Umsetzung dann von ihrer Unionsfraktion im Bundestag verhindert worden sei.

Die CDU des konservativen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz ist wohl gerade der Lieblingsgegner von Scholz. Auf die Frage nach den Renten sagt er, sie seien dann sicher, wenn die Zahl der Arbeitsplätze erhalten bleibe. Auch früher sei geklagt worden, Deutschland könne sich höhere Renten nicht leisten, weil die Jobs weniger würden. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Die Vorschläge der Union aber, dass die Renten künftig nicht mehr so stark steigen sollten wie die Löhne, das sei eine Rentenkürzung und mit ihm nicht zu machen.

Die Union hat den Vorwurf, die Renten kürzen zu wollen, bisher vehement bestritten. Doch Scholz kann sich Sticheleien gegen Merz und die Union nicht verkneifen – und wird dabei von einer Partei assistiert, mit der er betontermassen nichts zu tun haben will.

Auch die AfD hat Merz als Hauptziel ausgemacht. Auf ihrem Parteitag vor gut einer Woche in Sachsen fielen etwa Sätze, wonach den Krieg wähle, wer für Merz stimme. Der «Brandmaurer Merz» sei kein Oppositionsführer, «sondern ein Brandbeschleuniger», hiess es aus der AfD mit Blick auf die Forderungen der Union nach entschiedeneren Waffenhilfen für die Ukraine. Wie der «Spiegel» am Samstag berichtete, hat die AfD schon vor Jahren ein Dossier über Merz erarbeitet, wonach es gelte, bei den Wählern «ein grundsätzlich unwohles Bauchgefühl zu seiner Person zu schaffen und seinen Neustart auf der Basis von Fakten endgültig unglaubwürdig zu machen».

Umfrage zeigt die Union unter 30 Prozent

Eine am Sonntag veröffentlichte Insa-Umfrage zeigt, dass der Wahlkampf der Union bis anhin jedenfalls kaum verfängt. Erstmals seit längerem sind CDU und CSU unter die 30-Prozent-Marke gerutscht und liegen demnach bei 29 Prozent. Zeitweilig standen sie bei 33 Prozent. Die momentane Schwäche der konservativen Konkurrenz nützt allerdings auch Scholz und der SPD nichts. Sie liegt laut der Umfrage bei 16 Prozent. Allerdings sind diese Ergebnisse immer mit Vorsicht zu geniessen. Mitunter unterscheiden sich Umfragen des einen Instituts von denen anderer um mehrere Prozentpunkte.

Bei den persönlichen Beliebtheitswerten liegt Merz der Insa-Umfrage gemäss mit 23 Prozent allerdings nach wie vor deutlich vor Scholz (16 Prozent). Dass sich daran und an dem grossen Rückstand der SPD zur Union noch etwas ändert, daran glauben viele Sozialdemokraten offenkundig nicht mehr. Nein, sagt ein Parteimitglied aus dem Taunus, eine Wende wie bei der Bundestagswahl vor drei Jahren halte sie für ausgeschlossen. «Wenn wir bei 15 Prozent bleiben, können wir uns auf die Schulter klopfen.» Man müsse realistisch sein, mehr sei nicht drin.

Vor drei Jahren war es der SPD mit Scholz als Kanzlerkandidaten gelungen, einen grossen Vorsprung der Union auf den letzten Metern in einen überraschenden Wahlsieg umzukehren. Doch heute seien die Zeiten andere, sagt Heinz Stöcklin, SPD-Sympathisant aus Schwalbach. Der 81-Jährige beklagt das Auftreten der Ampelkoalition. Der ständige Streit auf offener Bühne, das sei das Hauptproblem gewesen. Die Versäumnisse lägen auch bei Scholz. «Er hätte mehr kommunizieren müssen.» Seine Frau sitzt neben ihm, beide freundliche, zugewandte Leute, sorgsam gekleidet, und nickt.

Einbürgerung ohne Deutschkenntnisse?

Scholz tourt derzeit durch Deutschland. Am Sonntagnachmittag ist er noch in Frankfurt, am nächsten Tag in Seligenstadt und Offenbach, ebenfalls in Hessen. Eine Frau lässt sich das Mikrofon geben und sagt, sie arbeite im Bürgeramt der Stadt Frankfurt. Dort habe sie immer wieder mit Menschen zu tun, die ihre Ausweispapiere abholten und mit ihr nur Englisch sprechen könnten. Wie das sein könne, fragt sie. «Wie haben diese Leute den Sprachtest zur Einbürgerung geschafft?»

Scholz erwidert sinngemäss, das könne schlicht nicht sein. Es sei denn, es handele sich um Kinder oder Enkel von Deutschen, die während der Nazi-Diktatur getötet worden oder ins Ausland geflüchtet seien. Ihnen stehe ohne Zweifel die deutsche Staatsbürgerschaft zu, selbst wenn sie kein Deutsch sprächen. Wer aber sonst nur Englisch könne, der dürfe nicht eingebürgert werden.

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Bundeskanzler nicht wissen kann, wie konkret das von der Bürgeramtsmitarbeiterin geschilderte Problem wirklich ist. Aber er nutzt Fragen wie diese, um seine Botschaften loszuwerden. Migranten, die Straftaten begingen, sollten sich vor Ausschaffung nicht zu sicher sein, sagt er etwa. Asylverfahren dauerten zu lange, ist eine andere Botschaft. Und: Die Zahl irregulärer Migranten ohne Bleibeperspektive in Deutschland sei «drastisch» zurückgegangen.

Scholz wirkt wie ein Politikdozent

In den anderthalb Stunden seines Wahlkampfauftritts am Rande des Taunus gibt Scholz den Kanzler, dessen Bilanz weit besser sei, als es die Menschen in Deutschland wahrnähmen. Doch den Eindruck, dass er noch an einen Wahlsieg glaubt, kann er in Schwalbach nicht vermitteln. Er wirkt fast schon leidenschaftslos, eher wie ein Politikdozent.

Ob er sich damit die Stimme von Menschen wie Johanna Lauer, 68 Jahre, erkämpft? Sie sagt, sie habe noch nicht entschieden, wen sie wählen werde. Aber zu den drei Jahren der Scholz-Regierung habe sie «sehr viele Fragezeichen». «Mir wurde da zu viel diskutiert, zu viel geredet. Ich weiss nicht, was da wirklich erreicht wurde.»

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