Samstag, November 23

Eine grosse Überblicksschau in Bern beleuchtet erstmals in der Schweiz die Anfänge moderner Kunst in Brasilien.

Brasilien ist nicht das Paradies. Auch wenn dem Aufbruch in die brasilianische Moderne viele mit Zuversicht gefolgt sind. Und bisweilen auch mit einem blinden Auge. So etwa die Malerin Tarsila do Amaral. Gleichwohl beglücken ihre Gemälde noch heute. Es sind paradiesische Schilderungen einfachen, dörflichen Lebens inmitten einer Natur, deren Daseinszweck allein darin zu bestehen scheint, sich in Üppigkeit und Farbenpracht zu verschenken.

Dieses Idyll aber ist trügerisch. Damals in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die begnadete Künstlerin Mitinitiantin einer brasilianischen Avantgarde. Die jetzt im Zentrum Paul Klee in Bern ausgestellten Bilder können aber nicht verbergen, dass die Perspektive, mit der Tarsila do Amaral ihr Heimatland in den Fokus ihrer Kunst nahm, eine solche von oben wie auch von aussen war.

Die durch eine klassische Kunstausbildung geschulte Malerin gehörte der Oberschicht an. Sie wurde 1886 in eine Familie von Kaffeeplantagenbesitzern geboren. Ihr künstlerisches Handwerk verfeinerte sie in Paris, wo sie Anschluss an die europäische Avantgarde fand. Dort wurde das Werk der Brasilianerin als exotische Malerei gefeiert und von Künstlern wie Picasso, Fernand Léger oder Giorgio de Chirico hoch geschätzt.

Do Amaral gehörte der ersten Künstlergeneration an, die sich auf die Suche nach einer kulturellen Identität des grossen lateinamerikanischen Landes begab. Dabei griff sie immer wieder auch auf die Eindrücke aus ihrer Kindheit auf den Kaffeeplantagen zurück. Plantagenarbeiter waren eines ihrer Lieblingsmotive.

Ihre Sichtweise auf die Heimat indes war naiv in zweierlei Hinsicht. Sie malte nicht nur in einem naiven Stil. Gleichzeitig stilisierte sie in ihren ländlichen und urbanen Landschaftsdarstellungen das Leben der afro-brasilianischen Landbevölkerung und den Alltag der ehemaligen Sklaven in den Favelas am Rand der Grossstädte zur tropischen Utopie. Die einfache Bevölkerung wurde in ihren Bildern zum idealisierten, illustrativen Darstellungsgegenstand.

In den dreissiger Jahren veränderte sich ihr Malstil allerdings fundamental: Aufgeweckt durch die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des von Getulio Vargas eingerichteten diktatorischen «Estado Novo» von 1930 begann sie sich in einem realistischeren Stil zu üben und sich der Sorgen der Arbeiterschaft anzunehmen.

Dieser Blickwechsel ist symptomatisch für Brasiliens Aufbruch in die Moderne. Das macht jetzt die grosse Überblicksschau in Bern deutlich. Mit zehn bedeutenden Kunstschaffenden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und rund 130 Werken bietet sie erstmals in der Schweiz einen umfangreichen Einblick in die moderne Kunst Brasiliens.

Suche nach dem Eigenen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Brasilien eine junge Nation in rasantem Wandel. Nach 67 Jahren Kaiserreich wurde 1889 die erste Republik mit der Hauptstadt Rio de Janeiro ausgerufen. Ein Jahr davor erst hatte Brasilien offiziell die Sklaverei abgeschafft – als letztes Land auf dem amerikanischen Kontinent. Noch lange indes blieben die ehemals Versklavten entrechtet und wurden in den Städten weiterhin als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.

Ihrer Situation nahm sich erst eine zweite Künstlergeneration mit unverstelltem Blick an. Beispielhaft dafür steht Djanira da Motta e Silva. In einer bewusst reduzierten Bildsprache schilderte sie das Alltagsleben der Arbeiter, die Volksfeste der einfachen Leute sowie afro-brasilianische Rituale und katholische Religiosität.

Ihre Bilder sind stets auch leise Kommentare der sozialen Ungleichheiten. Da Motta e Silva war Autodidaktin, Kind indigener Eltern und stammte aus der Arbeiterklasse. Vielleicht auch deswegen wurde sie lange als «primitive» Künstlerin angesehen und nicht zum Kanon der brasilianischen Moderne gezählt.

Ein Schlüsseljahr dieser sich herausbildenden Moderne in Brasilien war 1922. Anlässlich des Hundert-Jahr-Jubiläums der brasilianischen Unabhängigkeit finanzierte der Kaffeemagnat Paulo Prado – einer der einflussreichsten Oligarchen des Landes – mit der «Semana de Arte Moderna» eine Woche mit kulturellen Veranstaltungen.

Damit wollte er das wirtschaftliche Zentrum São Paulo neben Rio de Janeiro auch zur Hauptstadt der modernen künstlerischen Entwicklung machen. Neben einer Kunst- und einer Architekturausstellung wurden im Rahmen der Semana Konzerte, Tanzaufführungen, Vorträge und Lesungen abgehalten. Der Anlass bildete auch den Versuch, die verschiedenen Künste als eine einzige Avantgardebewegung zusammenzubringen.

Wie die Avantgarde in Europa strebten auch Kunstschaffende in Brasilien danach, den vorherrschenden, aus Portugal importierten akademischen Kunstkanon des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Künstler aus wohlhabenden Familien oder mit Reisestipendien suchten den Austausch mit europäischen Strömungen. Zurück in Brasilien setzten sie sich mit Traditionen und Themen auseinander, die sie als «ihre eigenen», als brasilianisch definierten: indigene Bräuche, durch die Sklaven eingeführte afro-brasilianische Kultur, die ethnische Pluralität. Die Auseinandersetzung mit dem europäischen Expressionismus, Futurismus und Kubismus indes ist in ihren Werken nicht zu übersehen.

Paul Klee als Ahnherr

Besonders augenfällig wird das nun im Zentrum Paul Klee, dem Schweizer Museum eines Idols vieler brasilianischer Kunstschaffender. So bezog sich etwa Lasar Segall, der 1923 nach Brasilien ausgewandert war, in seinen von Farbfeldern strukturierten Landschaften und Porträts stark auf Klee. Als junger Mann verliess er seine litauische Heimat, um in Berlin zu studieren. Briefe und Postkarten im Archiv des Museum Lasar Segall in São Paulo belegen, dass er zu Beginn der zwanziger Jahre mit Bauhaus-Lehrern wie Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger und eben auch Paul Klee in regem Austausch stand.

Aber auch in den späteren, abstrakt-geometrischen Arbeiten eines Alfredo Volpi finden sich, nachdem er sich von der gegenständlichen Malerei abgewandt hatte, Anleihen und Bezüge zu Klee. Volpi soll die dritte Generation von brasilianischen Künstlern auf Paul Klee aufmerksam gemacht haben.

Er immigrierte um die Jahrhundertwende als kleines Kind mit seiner Familie aus Italien nach São Paulo. In den dreissiger Jahren begann er sich als Sonntagsmaler künstlerisch zu betätigen. Insbesondere Häuserfassaden und Fahnen, die an Volksfesten die Dörfer schmückten, stilisierte er zu farbenfrohen, spontan wirkenden geometrisierenden Abstraktionen.

Brasilien ist auch heute kein Paradies. Die grossen Gegensätze und Ungleichheiten sind in dem riesigen südamerikanischen Land geblieben. Allerdings haben die Kunstschaffenden, ob in Europa geschult oder Autodidakten, stets an der Vorstellung einer paradiesischen Moderne gearbeitet. Dies nicht zuletzt auch in den Bereichen Design und Architektur – man denke an die Planstadt Brasilia, die 1960 als neue Hauptstadt des Landes eingeweiht wurde.

Wenn sie nicht die Utopie eines modernen Paradieses auf Erden verkörpern sollte, so stellt sie doch ein aus dem Boden gestampftes Gesamtkunstwerk dar, das den Glauben an die Moderne symbolisiert. Diesem setzten 1964 der Putsch und die Errichtung einer Militärdiktatur allerdings ein vorläufiges Ende. Erst 1985 begann der langsame Prozess einer Redemokratisierung – und mit ihm auch das Wiedererwachen einer heute ausgesprochen vitalen Kunstszene.

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