Montag, Januar 13

Immer mehr teure und schwere Grosskampfsysteme erweisen sich auf den Schlachtfeldern der Ukraine als untauglich. Sie lassen sich mit billiger und flexibler Drohnentechnologie aushebeln. Sichtbar wird der Krieg der Zukunft, der nicht weniger grausam ist.

25. Dezember, früher Weihnachtsmorgen. Die Strassenlampen sind gerade angegangen. Hier und da schleichen die ersten Autos durch die leeren Strassen, aber die meisten Menschen schlafen noch an diesem festlichen Morgen. Nur ein paar Fenster leuchten in einem gemütlichen gedämpften Licht, das an eine Kerzenflamme erinnert. Es sind die letzten Sekunden vor einem Raketenangriff.

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Als unglaublich schnell Feuertropfen vom Himmel herab zu regnen beginnen, treten eine Mutter und ihr Kind an das Fenster. Nicht weit entfernt davon, hinter dem schwarzen Umriss einer Kirche, trifft eine der Raketen ein Wärmekraftwerk: Es besitzt vier hohe Schornsteine, darunter einen, der die anderen überragt und der trotz wiederholten russischen Versuchen, ihn zu zerstören, nach wie vor raucht.

Die Explosion ist so gewaltig, dass der Himmel über halb Charkiw für einen Moment in orangefarbenes Feuer eintaucht, da die Wolken die höllischen Flammen am Boden reflektieren. Dann steigt ein kochender, flackernder Feuerpilz über dem Kraftwerk auf, verschmilzt mit den tief hängenden Wolken und verwandelt sich in etwas, das wie der dicke Wirbel eines Tornados aussieht.

Die Mutter, die das Geschehen vom Fenster aus beobachtet, spricht einen seltsamen Satz, um ihr Kind zu beruhigen: «Hab keine Angst, es wird noch schlimmer werden.» In Momenten wie diesen ist es oft schwer, die richtigen Worte zu finden.

Oreschnik, die Schreckliche

Als ich zehn Tage später am Ort vorbeifahre, sehe ich jedoch, dass das Kraftwerk noch immer in Betrieb ist: Einer der Schornsteine, der höchste, stösst noch immer Rauch aus. Die Fenster des Wohnhauses auf der anderen Strassenseite sind zerborsten, und das ist auch schon alles, was die Russen mit ihrem Angriff am Weihnachtstag erreicht haben.

Jede dieser Raketen kostet etwa so viel wie ein Kampfpanzer, aber im Moment funktionieren die grossen, teuren Raketen nicht. Sie jagen den Menschen nicht einmal mehr wirklich Angst ein. Oreschnik, die Schreckliche, mit der Putin der Welt immer wieder droht, lässt die meisten von uns nur mit den Schultern zucken. Fast täglich werden wir vor einem möglichen erneuten Abschuss dieser Mittelstreckenrakete mit sechs Sprengköpfen gewarnt, aber nur einer meiner Freunde gerät in Panik, wenn ihm eine weitere Warnung unterkommt. Für ihn ist das eine Nervensache: Zu viele russische Raketen sind schon zu nahe an seinem Haus eingeschlagen.

Auch zahlreiche andere Dinosaurier der Militärtechnik haben sich in diesem Krieg als nahezu nutzlos erwiesen. Sie erzeugen nicht mehr dieselbe Wirkung wie früher. So zum Beispiel schwere Panzer, die Millionen von Dollar kosten. Während ein solches Ungetüm Kilometer zurücklegt, um sich einer feindlichen Stellung zu nähern, hat eine leichte und billige FPV-Drohne ausreichend Zeit, ihn zu zerstören. Unscheinbare Marinedrohnen versenken grosse, unhandliche Kriegsschiffe und schiessen Kampfhelikopter über dem Meer ab. Die berühmten intelligenten Excalibur-Artillerie-Granaten mit GPS-Lenkung, die früher eine Treffsicherheit von bis zu 70 Prozent hatten, finden heute nur noch in 6 Prozent der Fälle ihr Ziel. Die elektronischen Abwehrsysteme haben gelernt, mit ihnen umzugehen.

Im Dorf Lipzi, neunzehn Kilometer nördlich von Charkiw, führte die ukrainische Armee die erste vollständig robotergestützte Schlacht ohne Infanterie durch. Zumindest war es das, was in den Medien darüber zu lesen war: eine vollständig robotergestützte Schlacht. Die Ukraine hat gewonnen und den Feind zurückgedrängt. Es wurden keine Einzelheiten über diese Konfrontation bekannt, und sie hat die militärische Landkarte nicht verändert, so dass der Sieg wahrscheinlich nicht wirklich bedeutend war. Russische Telegram-Kanäle spotteten über die Schlacht und veröffentlichten Fotos von beschädigten ukrainischen Bodendrohnen, die wie Spielzeugautos mit grossen Rädern aussahen.

Der erste Angriff seiner Art

Als ich mich mit einem Mann, der Drohnen herstellt, über den Schlagabtausch von Lipzi unterhielt, äusserte ich die Ansicht, dass die Schlacht ja eigentlich nicht als Roboterschlacht bezeichnet werden könne, da dort keine Roboter, sondern von Operateuren gesteuerte Drohnen gekämpft hätten. Daraufhin antwortete er mir, dass dort auch robotische Geschütze eingesetzt worden seien, die in der Lage seien, ein Ziel selbständig zu finden und auszuwählen. Aus einer Entfernung von fünfzig Metern treffe ein solches Geschütz mit Sicherheit den Kopf des Gegners, selbst wenn dieser gerade einen doppelten Salto mache, und aus einer Entfernung von zweihundert Metern treffe es mit Sicherheit den Rumpf.

Ausserdem seien in der Schlacht bei Lipzi auch die berühmten Roboterhunde eingesetzt worden. Sie schossen nicht, aber sie machten anhand von dessen Wärmeprofil den Gegner aus. Diese Schlacht war also tatsächlich robotisch, wenn auch nicht vollständig. Auf jeden Fall war es der erste Angriff dieser Art in der Geschichte, ohne Beteiligung der Infanterie. Als solcher dürfte er in die Militärgeschichte eingehen.

Die Schlappe bei Lipzi hat die Russen nicht sonderlich beunruhigt, denn sie haben nur eine weitere Portion Kanonenfutter verloren, und davon haben sie immer reichlich: 2024 hat die russische Armee ohne Wimpernzucken 420 000 Mann verloren, also fast eine halbe Million, aber doch rund 4200 Kilometer ukrainisches Territorium erobert, das heisst, grob gesagt, ein Rechteck aus Feldern, Schluchten, verbrannten Wäldern und rauchenden Ruinen von vierzig mal hundert Kilometern. Solches ist natürlich eine grandiose strategische Leistung, die sämtliche Verluste rechtfertigt.

Paradoxerweise ist dieser Krieg einerseits der modernste und am meisten technisierte aller Kriege der Geschichte, andererseits zieht er sich genauso endlos in die Länge und vernichtet genauso sinnlos Menschenmassen wie der Erste Weltkrieg. Zum Glück hat er nicht dessen Ausmass, aber sonst ist es das gleiche unmenschliche, schreckliche und hoffnungslose Massaker.

Da ist dasselbe monatelange und jahrelange Sitzen in den Schützengräben. Dieselben täglichen Abertausende von Artilleriegranaten pflügen das Land immer neu um und verwandeln die Wälder in eine Art riesige Haarbürste. Sogar das nach Senf riechende Giftgas Chlorpikrin, auf das Deutschland damals zurückgriff, ist jetzt wieder im Einsatz: Es wird von Russland gegen die Ukraine verwendet. Manchmal, wenn ich auf Videos sehe, wie Schweine aus zerstörten Schweineställen noch lebende Verwundete auffressen, und zwar beginnend mit dem weichen Unterleib, denke ich, dass dieser Krieg noch schlimmer ist als der Erste Weltkrieg.

Manche mögen sich sagen, dass dieser ganze Wahnsinn irgendwo weit weg stattfindet und nie vor der eigenen Haustür landen wird, aber selbst wenn das stimmt, breitet sich der Krieg als Terrorismus über die Welt aus – er sickert durch wie ein Gestank durch eine Türritze. Russland kriecht in kleinen Stücken aus sich heraus, so wie Kakerlaken durch Ritzen in den Wänden kriechen können. Von einer Wohnung in die andere, dann in eine dritte, in eine vierte, und am Ende ist es fast unmöglich, zu sagen, woher die Kakerlaken kommen. Aber die meisten von ihnen stammen von da, aus Russland.

Ich meine damit natürlich nicht die russischen Menschen. Ich meine Russland als ein Gebilde, das der Zivilisation, dem Völkerrecht und der Fairness entgegensteht. Es lässt den Krieg hybrid werden, durch das Durchtrennen von Internet-Seekabeln, durch Hackerangriffe, durch Einmischung in Wahlen, durch die Radikalisierung von fremden Gesellschaften, durch Sabotierung der Zukunft.

Der menschliche Faktor

Die Grausamkeit und Ausweglosigkeit des Ersten Weltkriegs war das Ergebnis von damals entwickelten neuen Militärtechnologien: Maschinengewehre, Panzer, Stacheldrahtzäune, massive Artillerie. Das Gleiche geschieht jetzt: Neue Technologien machen den Krieg immer noch brutaler, sinnloser und hoffnungsloser.

Es mag scheinen, dass Schlachten wie jene bei Lipzi ein begrüssenswertes Zeichen dafür sind, dass im Krieg nach und nach immer mehr Roboter aufeinander losgehen und immer weniger Menschen im Krieg sterben werden. Tatsache ist jedoch, dass ein Grossteil der modernen Technologie allgemein zugänglich ist. Sowohl in russischen als auch in ukrainischen Online-Shops sind identische Roboterhunde zu kaufen. Die russische Lancet-Drohne, die angeblich über ein System zur automatischen Erkennung, Verfolgung und Fixierung eines Ziels auf der Grundlage künstlicher Intelligenz verfügt, besteht aus importierten Komponenten, die auf dem freien Markt erhältlich sind, und ihre gesamte künstliche Intelligenz ist ein NVIDIA-Jetson-TX2-Modul, das sowohl von Ukrainern wie von Russen erworben werden kann.

Aus strategischer Sicht ist nichts Gutes an unbemannten Schlachten – wenn der menschliche Faktor ausgeschaltet wird, werden wirtschaftlich starke Länder wirtschaftlich schwache Länder militärisch dominieren, und dagegen kann nichts getan werden.

Neue Technologien verringern die Bedeutung schwerer und schwerfälliger Kampfsysteme, und die allgemeine Verfügbarkeit von Technologie negiert individuelle Qualitäten wie Intelligenz, Geschicklichkeit, Motivation und Ausbildung. Gerade was die smarte Kriegsführung betrifft, war die Ukraine Russland bisher überlegen.

Wenn sich Kampfweise und Kampfstärke angleichen, kann sich ein Krieg auf unbestimmte Zeit hinziehen, langsam vorangetrieben durch vage Vorteile bei der Anzahl der vorhandenen Bomben, der Menge des verfügbaren Kanonenfutters und des Geldes. Das ist es, was derzeit in der Ukraine geschieht.

Die Zukunft der Kriegsführung liegt indes zweifellos in der künstlichen Intelligenz. Es ist interessant, dass KI während dieses Krieges für eine breite Öffentlichkeit verfügbar geworden ist. Während die Kämpfe tobten, haben die Menschen gelernt, Aids sowie einige Formen von Krebs wirksam zu behandeln, Neuralink-Chips in ein menschliches Gehirn zu implantieren, das Herz eines Schweins in einen Menschen zu verpflanzen und auch die Flugbahn eines Asteroiden zu verändern.

Da wir stark damit beschäftigt waren, uns gegenseitig umzubringen, haben wir all dies kaum bemerkt, aber es scheint, dass der technologische Fortschritt nicht an uns vorbeigeht. Die Ukraine hat bereits Millionen, vielleicht sogar Dutzende von Millionen Stunden an Drohnenaufnahmen gesammelt, die zweifellos dazu dienen werden, KI-Modelle zu trainieren, die in der Lage sein werden, Entscheidungen auf dem Schlachtfeld zu treffen und Menschen mit übermenschlicher Genauigkeit zu töten.

Im Moment existieren noch hausgemachte Lösungen zum Schutz vor Drohnen. So kann man sich beispielsweise von Kopf bis Fuss in eine Gummimatte wickeln, um für die Wärmebildkamera unsichtbar zu werden, oder man kann schnell auf allen vieren um einen Baumstamm mit tief hängenden Ästen laufen, damit die Drohne einen nicht erreichen kann.

Oder wie wäre es mit dieser nordkoreanischen Idee: Soldaten schreiten in ein winterliches Feld mit nicht abgeernteten Sonnenblumen, um eine Drohne auf sich aufmerksam zu machen, während ein Kamerad versucht, die Drohne aus der Deckung abzuschiessen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass dies gelingt, aber wenn der Schütze sie verfehlt, dann geht ein anderer in das schwarze Sonnenblumenfeld ein.

Kein Zweifel, die omnipotente Schlacht-KI wird all diese und andere brillante Überlebensideen bald überflüssig machen.

Sergei Gerasimow ist Schriftsteller und lebt in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen mit Raketen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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