Samstag, Oktober 5

Bernard Patrick / Abaca / Imago

Was der Haudegen Jean-Marie Le Pen begonnen hat, bringt seine Tochter Marine zum Erfolg.

Es braucht nun keine Kristallkugel mehr, um einen historischen Sieg des Rassemblement national (RN) vorauszusagen. Am Sonntag, im zweiten Wahlgang, wird die Partei vermutlich gegen 200 Sitze im Parlament holen, mehr als doppelt so viele wie jetzt.

Seit 2022 führt der 28-jährige Jordan Bardella das Rassemblement national an. Er ist als Premierminister vorgesehen. Was den jungen Mann auszeichnet: Er ist nicht in die Geschichte dieser Partei verstrickt. Er steht für den Neuanfang. Was kümmern ihn Pétain-Anhänger, die mit der Niederlage Frankreichs 1940 zu Kollaborateuren Hitlers wurden und dann zu Geächteten? Er hat nie im Algerienkrieg gekämpft und beklagt auch den Untergang des kolonialen Frankreich nicht.

Unangefochtene Anführerin ist Marine Le Pen. Sie führt weiter, was ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, begonnen hat: ein Sammelbecken schaffen für all jene, denen das Land, ihr Frankreich, abhandengekommen ist, die sich nicht gesehen, nicht gehört und nicht verstanden fühlen. Das RN, lange als rechtsradikal eingestuft und von Medien und Gesellschaft geächtet, hat sich in der Mitte der Gesellschaft einen Platz erobert. Gekommen ist der Erfolg schleichend, aber stetig. Ein Rückblick in drei Kapiteln.

1. Die Enttäuschten finden eine Heimat

Der Front national (FN), wie das Rassemblement national (RN) bis 2018 hiess, hat ein Gründungsjahr: 1972. Und er hat eine Geburtsstunde. Sie wird auf den 13. Februar 1984, 20 Uhr 30, datiert. «L’Heure de vérité», die Interviewsendung auf Antenne 2, beginnt, während vor den Türen des Studios demonstriert wird. Eingeladen ist Jean-Marie Le Pen, in den Augen der Demonstrierenden der Teufel persönlich. Zum ersten Mal hat er einen grossen Fernsehauftritt.

Le Pen ist einer, der sich kaum verstellen kann. Mehrmals wirft er den Fragestellern vor, dass sie ihn absichtlich falsch zitierten. Er soll gesagt haben, dass Juden nicht zu Frankreich gehörten – eine Unterstellung! Für ihn ist es der Inbegriff von Tyrannei, wenn ihn die Gesellschaft verurteilt, nur weil er sagt, was er denkt.

Die Justiz sieht das anders: Fünfundzwanzig Mal wird Le Pen im Laufe seines Lebens rechtskräftig verurteilt, hauptsächlich wegen rassistischer, antisemitischer und homophober Äusserungen. Vom Detail, weswegen ihn seine Tochter 2015 aus der Partei wirft, wird noch die Rede sein.

Die Kritik gegen die Einwanderung steht schon damals im Zentrum der Le-Pen-Politik. Auf sie bezieht sich der «intellektuelle Terrorismus», den er der Bourgeoisie unterstellt. Dieser sorge dafür, dass in Frankreich brisante Themen schlicht nicht diskutiert würden.

Le Pen, ein Aufsteiger, ist nicht Teil dieser Bourgeoisie und wird es nie werden. Sein Vater war Fischer in der Bretagne, wo er 1942 mit seinem Boot auf eine deutsche Mine lief. Le Pen studiert Jus in Paris und engagiert sich an der Uni politisch. Er steht der ultranationalistischen, monarchischen und antisemitischen Action française nahe. 1956 wird er für eine kleine Unternehmerpartei ins Parlament gewählt, verliert aber später seinen Sitz, weil er dem Partei-Patriarchen zu radikal wird. Politik macht er weiter, bis zur Gründung des FN von der Seitenlinie aus.

Sein Haupterwerb wird ein Verlag für Tondokumentationen. Er verbreitet auch O-Töne von Nazis und von Maréchal Pétain, dem Anführer des französischen Vichy-Regimes. Ein reicher Erbe einer Zementdynastie und Fan von Le Pens Gesinnung vermacht ihm 1976 ein grosses Vermögen und eine Villa auf Montretout im Westen von Paris mit Sicht auf den Eiffelturm. Sie wird zum Treffpunkt der Lepenisten: Diskussionen am Tag, Party in der Nacht.

Le Pen ist ein geselliger Typ, immer bereit, ein Lied anzustimmen, auch Lieder, die er mit den Kameraden schon im Algerienkrieg gesungen hat. So etwas will im postkolonialen Frankreich die Öffentlichkeit nicht mehr hören, ebenso wenig wie die Heldengeschichten jener Franzosen, die im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Verräter kämpften.

Innerhalb des Front national aber hat es noch Platz. Die Partei ist schliesslich von Pierre Bousquet mitgegründet worden, einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS. In der Fernsehsendung «L’Heure de vérité» wird Le Pen auch darauf angesprochen, ob er im Algerienkrieg tatsächlich gefoltert habe. Le Pen selber hat dies in früheren Interviews eingeräumt. Nun aber wird das Gesicht des Gastes rot. Wieder diese Vorwürfe, wieder die Missverständnisse. Was die Leute früher getan hätten, interessiere ihn nicht. «Mich interessiert», sagt Le Pen einem Millionenpublikum, «ob die Leute heute dem Land dienen wollen.» Seine Bewegung bezeichnet er als «ni droite, ni gauche, français».

2. Dreiklang des Aufstiegs: Migration, Sicherheit, Arbeitslosigkeit

Es heisst, dass nach dem TV-Interview das Parteisekretariat alle Hände voll zu tun gehabt habe. So viele wollten plötzlich Mitglied werden. Wenige Monate später kommt der erste grosse Erfolg: Bei den Europawahlen im Juni 1984 erreicht der FN fast 11 Prozent der Stimmen. Le Pen hat nun wieder ein parlamentarisches Mandat.

Das Resultat zeigt zum ersten Mal auch deutlich: Die Ereignisse spielen den Rechtsextremen in die Hände. In ganz Europa beginnt in den achtziger Jahren ein wirtschaftlicher Strukturwandel, von dem sich Frankreich bis heute nicht ganz erholt hat. Die Arbeitslosigkeit steigt rasant. Betroffen sind zuhauf auch Arbeiter aus Nordafrika, die man während der Boomjahre ins Land geholt hat.

Ganz im Norden Frankreichs, zum Beispiel in Tourcoing, einst ein Flaggschiff der französischen Industrie, holt der FN fast 23 Prozent der Stimmen. Auch in Industriestädten wie Lille und Lyon ist der FN stark. Eben haben die Franzosen dort noch links gewählt, jetzt stimmen sie ganz rechts.

Natürlich gibt Le Pen nicht dem Strukturwandel die Schuld an der steigenden Arbeitslosigkeit, sondern benennt als Sündenbock die Zugezogenen. Migranten würden den Franzosen die Jobs wegnehmen. Und was bald dazukommt: Migranten sorgten für Unsicherheit im Land.

Seine Rhetorik verändert sich über die Jahre kaum. Vieles, was Le Pen sagt, ist auch nicht ganz falsch. Obwohl die Wirtschaft schwächelt, lässt die Zuwanderung kaum nach. Über die Integration zerbricht sich das Pariser Establishment nicht gross den Kopf. Die Sorgen der Städte, in denen die Zuwanderung zu sozialen Spannungen führt, finden wenig Gehör.

Dazu kommt: Terroranschläge sind in Frankreich kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Schon früher hinterlassen politische Unruhen in einstigen französischen Einflussgebieten wie Algerien und Libanon ihre blutigen Spuren. Heute sind es Islamisten, die durch ihre Anschläge in Paris und Nizza die Kosten für die Sicherheit in die Höhe treiben und die Bevölkerung verunsichern.

Le Pen nutzt die Gewalttaten, um mit Fremdenfeindlichkeit auf Stimmenfang zu gehen. 1986 ziehen die Rechtsextremen mit 35 Parlamentariern in die Assemblée nationale ein. Das ist nur möglich, weil Präsident François Mitterrand kurzzeitig das Verhältniswahlrecht einführt. Als er sieht, was sich da im Parlament tummelt, schafft er es rasch wieder ab. Das Mehrheitswahlrecht sorgt danach wieder dafür, dass die extreme Rechte aussen vor bleibt. Bis 2022 bleiben die FN-Abgeordneten ein kleines Grüppchen.

Doch in den Regionen setzt sich der Front national langsam, aber stetig fest, nicht nur in ehemaligen Industrie- und Bergbaugebieten im Norden und Nordosten des Landes, sondern auch an der Mittelmeerküste. Hier leben viele Einwanderer sowie viele Franzosen, die ihr Zuhause in Algerien wegen des Krieges verloren haben. Toulon ist 1995 die erste Stadt von über 100 000 Einwohnern, in der der FN den Bürgermeister stellt.

Der FN ist die Anti-Migrations-Partei, die Anti-Globalisierungs-Partei, die Anti-EU-Partei. Die Einführung des Euro 2002 ist für Le Pen ein weiteres Symbol dafür, dass es sein glorreiches Frankreich bald nicht mehr geben wird. Die Kontroverse um die neue Währung verschafft Le Pen seinen grössten Triumph: 2002 wird er in der Präsidentschaftswahl Zweitplatzierter. Im zweiten Wahlgang setzt sich allerdings Jacques Chirac haushoch durch. Für Le Pen stimmen 17 Prozent.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2007 kann Le Pen seinen Erfolg nicht wiederholen. Die Medien schreiben ihn ab. Er ist inzwischen 79-jährig und hat es nicht geschafft, seine Partei aus der Pfui-Ecke zu holen. Es ist Zeit für die neue Generation: für Marine Le Pen.

3. Eine gelungene Normalisierung oder auch: «Entteufelung»

Die Mutter von Marine Le Pen sagte einmal über ihre jüngste Tochter, Jahrgang 1968, sie sei wie ihr Ex-Mann, einfach mit langen Haaren. Der Vater sagt es in leicht anderen Worten: «Marine ist wie ich, einfach mit Brüsten.»

Ihre Eltern sind vermutlich die beiden Menschen, die ihr im Leben am meisten Schmerzen bereiten. Mit beiden wird sie brechen und jahrelang nicht reden. Die Le Pens, das war einmal eine intakte Familie, der Patriarch mit einer bildschönen Frau und den drei blonden Mädchen. 1976, nach Bekanntwerden der grossen Erbschaft, wird ein Anschlag auf das Mietshaus der Familie in Paris verübt. Kiloweise Sprengstoff verwüsten das Haus. Alle Bewohner überleben. Für Marine zerbricht aber die heile Welt ihrer Kindheit.

Es habe die Familie zwar zusammengeschweisst, schreibt die Tochter rückblickend. Aber der Bombenanschlag, dessen Urheberschaft bis heute ungeklärt ist, habe sie als Mädchen isoliert. Die Klassenkolleginnen wenden sich ab. Die Familie Le Pen gilt fortan als toxisch, ihr Vater ist es sowieso. Das beeinflusst später auch ihre Karriere als Juristin. In die feine Pariser Gesellschaft hinein kommt sie nicht. Und so fängt sie an, für die Partei zu arbeiten.

1984 verlässt Marines Mutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Familie und die Villa auf Montretout. Sie hat die Schnauze voll von ihrem Mann, seinem Ruf und seinen Weggefährten. Für Marine ist das ein Schock. Sie muss sich wochenlang nach dem Essen übergeben und zweifelt, ob ihre Mutter sie liebt. Der lange, medial ausgefochtene Scheidungskrieg führt zu peinlichen Szenen wie einer Fotostory im Playboy, für die sich ihre Mutter auszieht.

Lange ist Marine Le Pen eine enge Gefährtin ihres Vaters, verteidigt seine verbalen Ausrutscher. 2011 setzt sie sich als seine Nachfolgerin durch und übernimmt die Partei. Sie ist überzeugt, dass ihr Vater das Potenzial der Partei nicht voll genutzt habe. Marine bringt Schwung in die Sache. Ihr Motto: Normalisierung.

Auch sie bewirtschaftet gezielt die Themen Migration und Sicherheit, aber ohne Einwanderer und Muslime frontal anzugreifen. In linken Kreisen gilt sie zwar weiter als Rassistin. Ihre Strategie der Normalisierung zeigt aber bei den Kommunalwahlen und Europawahlen 2014 Erfolg.

Ein Jahr später kommt dann die «Entteufelung», wie die Normalisierung auch genannt wird, ins Stocken, weil sich der «Teufel» persönlich wieder meldet. Zum zweiten Mal nach 1987 sagt Jean-Marie Le Pen, dass die Gaskammern in Nazideutschland nur ein Detail der Geschichte gewesen seien. Auch will er sich nicht von den Pétain-Faschisten abgrenzen. Die Aussage hat Konsequenzen: Seine Tochter schliesst ihn erst aus der Partei aus, danach bricht der Kontakt ab.

Marine Le Pen lässt sich wie ihr Vater – er ist inzwischen 96 und steht unter Vormundschaft – bei jeder Präsidentschaftswahl als Kandidatin aufstellen. Sie schafft es 2017 und 2022 in den zweiten Wahlgang. 2022 erreicht sie dort über 40 Prozent. Ihre direkte und uneitle Art steht im Gegensatz zu Macron, der rhetorisch Luftschlösser baut und sich als Quasi-Monarch über die Bevölkerung erhebt. Le Pens populistisches, «sozial-nationales» Programm, wie es die Partei nennt, ist ein zusätzlicher Köder. Sie will unter anderem die Kaufkraft stärken und das Rentenalter wieder senken.

Das Resultat der Parlamentswahl von 2022 mit 89 Sitzen ist mehr als ein Vorbote für das, was kommen wird. Ihr Erfolg weckt den Abwehrreflex der anderen Parteien: alle gegen die extremen Rechten. Doch die Brandmauer, die man einst um die Lepenisten errichtet hat, bröckelt immer mehr. Eine Le Pen aus der (Partei-)Familie der Gemiedenen und Missverstandenen – sie wird künftig in der französischen Politik den Ton angeben.

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