Samstag, Oktober 5

Um die gesellschaftliche Durchlässigkeit in der Schweiz ist es gut bestellt – dank dem dualen Bildungssystems. Doch der allgemeine Aufstieg darf nicht mit dem Platztausch verwechselt werden.

In unserer Familie war ich die Erste, die ein Universitätsstudium absolviert hat. In meinem Familien- und Bekanntenkreis kenne ich mehrere solche Beispiele. Man ist versucht, daraus vorschnell Rückschlüsse auf die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft zu ziehen. Dabei geht jedoch ein wichtiger Aspekt vergessen: der Unterschied zwischen dem allgemeinen Aufstieg einer Generation gegenüber der vorherigen und dem Platztausch zwischen den Familien auf der gesellschaftlichen Leiter. Ist mein eigener Hochschulabschluss Ergebnis der allgemeinen Bildungsexpansion der vergangenen Jahrzehnte oder Ausdruck einer durchlässigen Gesellschaft? Hier gilt es genau hinzuschauen.

Auf und Ab in vier Generationen

Um die Durchlässigkeit der Gesellschaft zu erfassen, wird die intergenerationelle soziale Mobilität gemessen. Sie gibt an, wie stark der eigene Erfolg durch die familiäre Herkunft geprägt ist. Typischerweise werden hierfür Eltern-Kind-Beziehungen untersucht. Um zu bestimmen, ob dynastische Effekte vorliegen, werden auch weiter zurückliegende Generationen berücksichtigt. Die Untersuchung 15 aufeinanderfolgender Generationen bis zurück ins Mittelalter bestätigt, was als Volksweisheit längst bekannt ist: Der Effekt des familiären Hintergrunds erlischt im Durchschnitt binnen vier Generationen.

Will heissen: Bereits die Urgrosseltern haben keinen nachweisbaren Effekt mehr auf den eigenen sozialen Status. Das ist ein gutes Zeichen für die Durchlässigkeit in der Schweiz. Man stelle sich den umgekehrten Fall vor: Die wenigsten kennen beziehungsweise kannten ihre Urgrosseltern persönlich. Würden diese dennoch den eigenen Erfolg beeinflussen, wäre dies Ausdruck dynastischer Effekte. Doch wie steht es um die Prägung durch das eigene Elternhaus?

Bedeutung des dualen Bildungssystems

Hier zeigt sich in der Schweiz ein interessantes Bild: Während wir uns bezüglich der Bildungsmobilität im OECD-Mittelfeld bewegen, gehören wir bei der Einkommensmobilität zu den Spitzenreitern.

Akademikerkinder sind an den Schweizer Hochschulen übervertreten. Die Zahlen des Bundesamts für Statistik offenbaren: Beinahe die Hälfte aller Studentinnen und Studenten stammt aus einem Akademikerhaushalt. Demgegenüber hat lediglich ein Viertel der Eltern aller 25- bis 35-Jährigen einen Hochschulabschluss.

Im Gegensatz dazu ist die gesellschaftliche Durchlässigkeit beim Einkommen deutlich höher. Dort zeigt die Studienlage, dass wir gar besser abschneiden als die skandinavischen Gesellschaften, die gemeinhin als besonders durchlässig gelten. Ein wichtiger Treiber für diesen Unterschied ist das stark ausgebaute duale Bildungssystem in der Schweiz. So ist es hierzulande möglich, auch ohne universitäre Bildung die Einkommensleiter emporzuklettern. In der Schweiz steht es demnach gut um den Platztausch. Das Elternhaus tangiert das spätere Einkommen der Kinder kaum.

Leiterlänge und Platztausch

Wie kommt es nun aber, dass immer wieder von abnehmender sozialer Mobilität die Rede ist? So sind 59 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer besorgt, dass sie finanziell nicht so gut dastehen wie ihre Eltern. Zusätzlich wird es immer schwieriger, besser ausgebildet zu sein als die elterliche Generation. Während noch über die Hälfte der in den 1950er Jahren geborenen Kinder eine höhere Ausbildung genossen als deren Eltern, sind es bei den Ende der 1980er Jahre Geborenen knapp ein Drittel. Seither ist der Anteil der Hochschulabgänger weiter angestiegen. Das wird es in Zukunft noch unwahrscheinlicher machen, dass die Kinder höher ausgebildet sind als deren Eltern. Dabei handelt es sich aber keineswegs um einen Mangel an Durchlässigkeit. Es ist nicht so, dass der Platztausch auf der Leiter stark eingeschränkt ist. Stattdessen wird es immer schwieriger, eine noch längere Leiter zu bauen. Im Fachjargon wird hierbei von einer rückläufigen absoluten sozialen Mobilität gesprochen.

Aber weil eine abnehmende absolute soziale Mobilität kein Zeichen für mangelnde gesellschaftliche Durchlässigkeit ist, muss dem aus sozialpolitischer Sicht auch nicht entgegengewirkt werden. Im Gegenteil: Unser Land braucht weiterhin gut ausgebildete Handwerkerinnen und Handwerker. Es sollte nicht Ziel der Bildungspolitik sein, dass in Zukunft alle einen Universitätsabschluss machen. Ziel muss es sein, «verlorene Einsteins» zu vermeiden. Kindern mit viel Potenzial sollte nicht aufgrund ihres familiären Hintergrunds der Zugang zur Universität verwehrt sein. Aber genauso muss eine gute Bildungspolitik verhindern, dass «verlorene Super-Handwerker» entstehen. Stattdessen sollten wir Sorge tragen zu unserem weltweit vielbeachteten dualen Bildungssystem – gerade auch mit Blick auf die gesellschaftliche Durchlässigkeit.

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