Freitag, September 20

Laut dem Komitee der Volksinitiative könnten in der Stadt Zürich bis zu 10 000 zusätzliche Wohnungen entstehen.

Es kommt selten vor, dass der Zürcher Freisinn sich die Genfer Wohnpolitik zum Vorbild nimmt. Normalerweise sind es die linken Parteien, welche die westlichste Stadt der Schweiz um ihre Gesetzgebungen beneiden – beispielsweise um den dort geltenden Wohnschutz.

Die Ausnahme stellt nun die sogenannte «Aufstockungsinitiative» dar, die ein Komitee von der Mitte bis zur SVP unterstützt. «Genf hat es vorgemacht», heisst es in der Begründung der städtischen Initiative. Seit 2008 gibt es in Genf Zonen, in denen Wohngebäude um ein bis zwei Etagen aufgestockt werden können.

Das soll auch in Zürich möglich sein, finden die Initianten und verlangen eine Anpassung der Bau- und Zonenordnung. Nämlich dahingehend, dass bestehende Gebäude unabhängig davon, wie viele Etagen sie bereits haben, um drei Meter erhöht werden dürfen. In diesen neuen Geschossen soll Wohnraum entstehen.

Kürzlich ist die Initiative zustande gekommen.

«Wohnoffensive» für Zürich

In den Augen des Initiativkomitees tut die rot-grüne Zürcher Stadtregierung das Falsche, «um langfristig zahlbare Wohnungen zu gewährleisten», sagt Hans Dellenbach, FDP-Gemeinderat und Mitglied des Initiativkomitees.

Zürich brauche eine «Wohnoffensive», betont Dellenbach. Der Fokus der Stadtregierung liege nur auf Subventionen, Reglementierungen und Verstaatlichungen, anstatt schnell zusätzlichen Wohnraum zu schaffen oder zu ermöglichen. «Private Investoren werden gegängelt oder behindert.» Ohne sie sei die Wohnungsknappheit aber nicht in den Griff zu bekommen.

Dass das Wohnraumproblem allein mit Aufstockungen nicht aus der Welt zu schaffen ist, ist den Initianten bewusst. «Es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung», sagt Dellenbach.

Doch wie viele Wohnungen könnten aufgrund der Initiative tatsächlich gebaut werden?

In Zürich gibt es heute etwa 50 000 Wohnhäuser. «Würden 10 bis 20 Prozent davon aufgestockt, ergäbe dies im besten Fall 10 000 zusätzliche Wohnungen», schätzt Dellenbach. Gleichzeitig würden Grünräume und Quartierstrukturen geschont. «Unter dem Strich sind Aufstockungen in ökologischer und sozialer Hinsicht oft besser als Neubauten.»

In den letzten neun Jahren entstanden in der Stadt Zürich im Schnitt 2300 zusätzliche Wohnungen pro Jahr. Die meisten davon gibt es jeweils in Neu- oder Ersatzbauten, etwa 300 durch Umbauten.

Als Umbauten erfasst sind in der städtischen Statistik beispielsweise zu Wohnungen umgenutzte Dachstöcke, aber auch Aufstockungen und Anbauten. Die beiden Letzteren sind kumuliert ausgewiesen. In den Jahren ab 2015 schwankte deren Zahl zwischen 39 (2022) und 197 (2021).

Laut Berechnungen der Zürcher Kantonalbank wurde zwischen 2018 und 2023 jedes hundertste Gebäude im Kanton aufgestockt. Häufig handle es sich dabei um Liegenschaften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden seien. Bauten aus dieser Zeit eigneten sich besonders, da sie grundsolide gebaut worden seien und über hohe Räume verfügten, heisst es vonseiten der ZKB. Wohngebäude aus der Nachkriegszeit wichen derweil häufiger Ersatzbauten.

Genossenschaft ersetzt und ergänzt

Ein Beispiel liefert die Baugenossenschaft Wiedikon, die unter anderem neben dem Friedhof Sihlfeld zwei Kolonien besitzt. Die beiden Siedlungen aus den Jahren 1922 und 1971 bilden mit weiteren Liegenschaften einen Blockrand. Seit 2021 befindet sich die Genossenschaft in einem umfassenden Erneuerungsprozess.

Eine Zustandsanalyse der beiden Siedlungen ergab, dass sich bei der jüngeren ein Ersatzneubau lohnen würde. Bei den Bauten aus den 1920er Jahren entschied sich die Genossenschaft jedoch für eine Sanierung mit Aufstockung und Ausbau der Estrichflächen.

Das Resultat: Der Ersatzneubau ermöglicht 65 Prozent mehr Ausnützungsfläche als der vorherige Bau. Die Aufstockung brachte 16 Prozent zusätzliche Nutzfläche.

Viel ungenutztes Potenzial

Möglichkeiten, ein bestehendes Gebäude zu erweitern, gibt es also auch heute schon – mit der Initiative kämen weitere dazu. Vielerorts könnte auch nach heutiger Zonierung aufgestockt werden. Gemäss einer ETH-Studie wären in der Stadt Zürich theoretisch schon heute 8589 zusätzliche Wohnungen möglich.

Wie viele Gebäude bereits heute aufgestockt werden könnten, sei schwierig abzuschätzen, heisst es vom Amt für Städtebau. Die Stadt verfüge aber über eine beträchtliche Gesamtreserve an Wohnnutzfläche, sagt der Mediensprecher Anatole Fleck. «Stand 2023 beträgt sie rund 13 000 000 Quadratmeter und ist auf Parzellen in der ganzen Stadt verteilt.» Das entspricht in etwa 1800 Fussballfeldern.

Kritiker der Initiative sehen dieses schon heute ungenutzte Potenzial als Zeichen dafür, dass Hauseigentümer schlicht kein Interesse daran hätten, ihre Liegenschaften zu erhöhen. Daran werde auch eine Annahme des Vorstosses nichts ändern.

Hans Dellenbach hingegen glaubt, dass die Initiative gerade für die Eigentümer interessant sei, deren Gebäude bereits über Ausnützungsreserven verfügten. Denn diese Liegenschaften könnten dank dem Vorstoss gleich um zwei oder mehr Stockwerke erhöht werden. «Das rechnet sich schneller.»

Skepsis bei Immobilienfirmen

Einzelne angefragte Immobilienfirmen äussern sich vorderhand zurückhaltend zur Initiative. Sie gehen mit den Initianten einig, dass vermehrtes Erhöhen von Wohnbauten allein das Wohnproblem in Zürich nicht lösen dürfte.

Der Mobimo-Sprecher Anthony Welbergen sagt, das Unternehmen stehe Vorgehensweisen, die auf die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum abzielten, grundsätzlich positiv gegenüber. «Die Aufstockung ist eine Massnahme unter vielen, die sich anbietet und die wir unterstützen.» Bei der Mobimo seien Aufstockungen bis heute die Ausnahme.

Abzuschätzen, wie sich eine Annahme der Initiative konkret auswirken würde, sei allerdings schwierig, sagt Welbergen. Es sei sicherlich nicht davon auszugehen, dass flächendeckend aufgestockt würde. Wo eine Gebäudeerhöhung baulich, ökologisch und ökonomisch sinnvoll sei, müsse im Einzelfall abgeklärt werden.

Für Jean-Pierre Valenghi, Leiter Immobilien bei der Baloise, handelt es sich bei dem Aufstockungsvorstoss um «Pflästerlipolitik», die «nicht wirklich zielführend» sei. Es würde zwar Wohnraum entstehen. Bis dieser auf den Markt käme, würde es aber Jahrzehnte dauern.

So müsse beispielsweise die Statik wie auch die Vereinbarkeit von Aufstockungen mit dem Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung und den Denkmalschutzbestimmungen geprüft werden. Wohnraum werde jedoch kurz- und mittelfristig benötigt. «Für diese Problematik bietet die Initiative keine Lösung.»

Bauen in der Stadt Zürich braucht Zeit – so wie in allen bereits dicht besiedelten Gebieten. Nicht nur wegen des langwierigen Bewilligungsprozederes, sondern auch wegen rekursfreudiger Nachbarn. Für die Baloise wären Aufstockungen deshalb vor allem dann interessant, wenn Rekursmöglichkeiten eingeschränkt und die damit verbundenen Prozesse beschleunigt würden.

Auch bei Mieterinnen und Mietern stehen Bauvorhaben meist nicht besonders hoch im Kurs. Wo aufwendig saniert wird oder ein Ersatzneubau entsteht, muss die Mieterschaft ausziehen.

In der Aufstockungsinitiative steht deshalb auch explizit, dass die neue Regel nur bei Aufstockungen im Bestand gelten soll. Ersatzneubauten wären nur zonenkonform erlaubt.

Bauen im Bestand schliesst Kündigungen nicht aus

Dennoch wäre es wohl verfehlt, anzunehmen, dass sämtliche Aufstockungen in bewohntem Zustand geschehen würden. So räumt auch der Initiant Dellenbach ein, man könne nicht pauschal davon ausgehen, dass jede Aufstockung ohne Kündigungen ausgeführt werden könne.

Gemäss Jean-Pierre Valenghi von der Baloise hängt dies von den jeweiligen Gegebenheiten des einzelnen Projekts ab. Tendenziell sei es aber eher unwahrscheinlich.

«Aufstockungen sind meist mit statischen, feuerpolizeilichen und erdbebentechnischen Ertüchtigungen verbunden. Alles Arbeiten, die für die Mieterinnen und Mieter grosse Einschränkungen, Lärm- und Staubemissionen bedeuten», sagt Valenghi. Deshalb seien sie oft nur im Rahmen einer Gesamtsanierung sinnvoll.

Armin Brun, Leiter Immobilientreuhand bei der Zürcher Kantonalbank, gibt in einem Interview der bankeigenen Immobilienpublikation zu bedenken, dass der Sanierungszyklus ein entscheidender Faktor darstelle. «Wenn ich erst vor sieben Jahren das Dach saniert und dazu noch Fotovoltaik installiert habe, vernichte ich durch eine Aufstockung sehr viel Kapital.» Wenn aber sowieso eine Sanierung anstehe, fahre man markant günstiger, wenn gleichzeitig eine Aufstockung geplant werde.

Ein praktischer Ansatz

Die Eier legende Wollmilchsau der Wohnpolitik ist die Initiative der bürgerlichen Parteien nicht, und das muss sie auch nicht sein.

Die Initiative verfolgt einen praktischen Ansatz und richtet den Fokus auf einen Aspekt, der in der heutigen Wohnbausituation oftmals vergessenzugehen scheint: Auch in einer Stadt wie Zürich, wo der Bau auf der grünen Wiese kaum noch möglich ist, gibt es Wege, um mehr Wohnungen zu schaffen, ohne vorher ein ganzes Haus abzureissen.

Ausserdem könnte die Initiative Liegenschaftenbesitzer für Aufstockungen sensibilisieren, so dass diese die Option zumindest in Betracht ziehen.

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