Donald Trump ist nur der deutlichste Ausdruck davon: Die Welt verändert sich, und Europa muss sich anpassen, will es weiterhin relevant sein. Was der Kontinent aus Davos lernen kann.
Die treffendste Rede hat am 55. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos Wolodimir Selenski gehalten. Der ukrainische Präsident sprach nicht über die schwierige Lage und das unermessliche Leid, das sein Land nun seit bald drei Jahren erdulden muss. Selenski sprach über Europa.
«Wie kann es sein, dass alle nach Washington blicken und sich Sorgen über ihr zukünftiges Verhältnis zu den USA machen, aber niemand von Europa spricht?», begann Selenski seine Rede. Ob sich Europa wirklich damit zufriedengeben wolle, vernachlässigbar zu sein, fragte er rhetorisch. Habe denn Europa etwa vergessen, dass das, wonach sich Millionen von Osteuropäern sehnten, nämlich Freiheit, Frieden und Wohlstand, nicht selbstverständlich sei? Selenski sagte, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer zu einem wiedererstarkten freien Europa gehören wollten und gegenwärtig nicht nur für sich, sondern für dieses Europa und seine Werte enorme Opfer brächten.
Am WEF in Davos waren die Unsicherheit und das Unbehagen darüber gross, dass Gewissheiten wie der transatlantische Einsatz für Freiheit, Demokratie und eine liberale Marktwirtschaft nun wegbrechen könnten. Alle Veränderungen haben dabei eines gemeinsam: Sie fordern die EU und die Schweiz grundlegend heraus.
Umso wichtiger ist Klarheit darüber, was sich verändert:
1. «America first» heisst «Business first»
Die meisten Konzernchefs blicken optimistisch auf die USA. Was Donald Trump ihnen in einer Videoschaltung versprochen hat, erfüllt ihre Erwartungen. Trump will die bereits gut laufende amerikanische Wirtschaft kräftig weiter ankurbeln.
Von Deregulierung und Entbürokratisierung redet er nicht nur, er hat mit zahlreichen Dekreten bereits Vorschriften aufgehoben. Bidens Green Deal: Makulatur. Obligatorische aufwendige Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit und zu den Lieferketten: Braucht es nicht. Jahrelange Bewilligungsprozesse für Investitionsprojekte: Donald Trump will das mit seiner Administration in Wochen schaffen.
«America first» heisst «Business first». Die Steuerbelastung von Firmen soll nochmals so stark sinken, dass die USA weltweit zu einem der steuerlich attraktivsten Standorte werden.
Nichts hält Trump deswegen von der mit der OECD vereinbarten globalen Mindeststeuer und Digitalsteuer. Auch die Umsetzung der Basel-III-Eigenkapital- und -Liquiditätsvorschriften dürfte lockerer als geplant ausfallen, damit die Banken weniger Kapital und Liquidität halten und noch mehr Kredite vergeben oder Eigenkapital an ihre Aktionäre ausschütten können. All das wird kurzfristig das Wirtschaftswachstum und die Börsenkurse antreiben.
Es wird noch mehr Kapital aus dem Rest der Welt in die USA locken und die Übernahme- und Fusionstätigkeit stimulieren. Das macht den amerikanischen Kapitalmarkt gegenüber den europäischen und asiatischen noch attraktiver, dabei dominiert der amerikanische seit der grossen Finanzkrise sowieso schon die Welt. 2007 machte Amerika 49 Prozent des globalen Aktienindexes MSCI World aus, 2024 waren es 70 Prozent.
2. Wettbewerb um KI und günstige Energie
Es geht nicht nur um Elon Musk. Trump hört auf die Wünsche der Chefs der grossen amerikanischen Digitalkonzerne, um die USA als unangefochtenes Zentrum der künstlichen Intelligenz (KI) zu etablieren. Das braucht nicht nur gut ausgebildete Spezialisten, sondern auch viel Energie. In Davos versprach Trump den Konzernen unbürokratische Bewilligungen, um eigene Kraftwerke neben deren Datenzentren erstellen zu können.
Zur Wirtschaftsfreundlichkeit der neuen US-Regierung gehört auch die Erkenntnis, dass günstige Energie ein wichtiger Standortvorteil ist. Trump will die Energiepreise durch einen raschen Ausbau der einheimischen Erdöl- und Erdgasförderung und durch Druck auf Freunde im Nahen Osten senken. Das soll auch bei der Bekämpfung der Inflation helfen.
3. Zölle und Machtpolitik statt internationale Regeln
Wider alle ökonomische Vernunft scheint Trump dem festen Glauben zu huldigen, Zölle und Strafsteuern seien ein Wundermittel, mit dem sich jede Art von «unfairen» internationalen Handelsbeziehungen zum eigenen Vorteil korrigieren lassen und das den Staatshaushalt finanziert. Dass das primär die eingeführten Waren und Dienstleistungen verteuert und mittelfristig ineffiziente Betriebe am Leben erhält, kümmert ihn offenbar nicht.
Trump hat seine Administration bereits angewiesen, alle bilateralen Beziehungen auf Ungleichgewichte hin zu überprüfen, und droht Kanada, Mexiko und der EU mit kräftigen Zollerhöhungen. Das widerspricht dem Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada. Doch Trump fühlt sich offensichtlich nicht an internationale Übereinkünfte gebunden. Es gilt das Gesetz des Stärkeren. Das schwächt und paralysiert das multilaterale Handels- und Steuersystem. Und es führt zu diskretionärer Machtpolitik.
Bereits unter Biden hat der handelspolitische und technologische Wettstreit zwischen den USA und China zu mehr Protektionismus und einem partiellen Zerfall der Weltwirtschaft in konkurrierende Blöcke geführt. Es scheint, als wolle Trump diese Art von Handelskrieg und Protektionismus noch deutlich verschärfen.
Sollten die betroffenen Länder mit entsprechenden Gegenmassnahmen reagieren, würde dies der Weltwirtschaft erst recht schaden. Der Internationale Währungsfonds warnt vor einem Verlust von bis zu 7 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Das entspräche einem Wegfall des Bruttoinlandprodukts von Japan und Südkorea.
4. Mit China und dem Mittleren Osten rechnen
Ding Xuexiang, der erste chinesische Vizeministerpräsident, positionierte sein Land in seiner Rede in Davos als Gegenmodell zu Trump. Sein Land fühle sich noch stärker als früher multilateralen Regeln verpflichtet. Ding erklärte, dass China inzwischen die allermeisten Beschränkungen für Handel und Direktinvestitionen aufgehoben habe. Auch macht China im Gegensatz zu den USA im alternativen Streitschlichtungsmechanismus des Welthandelssystems mit und hält sich weitgehend an die Regeln der WTO.
China hat zwar derzeit seine eigenen wirtschaftlichen Probleme, ist aber zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt geworden und kann den USA als wohl einziges Land sowohl im Tech-Bereich als auch militärisch die Stirn bieten. Diese Rivalität zwischen dem Aufsteiger und der ihren Platz verteidigenden Weltmacht birgt grosses Konfliktpotenzial. Doch einen heissen Konflikt könnte wohl weder der eine noch der andere gewinnen.
China muss sich erst wirtschaftlich weiter modernisieren, und Trump braucht Zeit, um die USA zu stärken. Es deutet deshalb viel darauf hin, dass sich beide Seiten um eine Übereinkunft bemühen. Trump bezeichnete in seiner Diskussion mit Wirtschaftsvertretern am WEF den chinesischen Präsidenten Xi Jinping als jemanden, mit dem er sich sehr gut verstehe und mit dem er seine Beziehung erneuern möchte.
Es lohnt sich also, neben den USA weiterhin auf China zu setzen. Doch die Welt ist nicht bipolar. Die Promenade in Davos ist jedes Jahr ein guter Spiegel der aufstrebenden Regionen. Sie präsentieren sich dort in Pavilions und mit eigenen Veranstaltungen. In diesem Jahr war nicht zu übersehen, woher neue Dynamik kommt: aus dem Mittleren Osten. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudiarabien waren stark präsent – zusammen mit dem bereits seit einigen Jahren stark vertretenen Indien.
5. Die Schweiz ist verletzlich, hat aber gute Chancen
Die Schweiz ist eines der am stärksten globalisierten Länder der Welt. In der Schweiz haben die Exporte von Gütern und Dienstleistungen einen Wert von 75 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), in Deutschland 43, in China 20 und in den USA bloss 11 Prozent. Damit ist die Schweiz stärker als die grossen Mächte USA und China auf offene Märkte angewiesen.
Trump möchte Defizite in den Handelsbilanzen mit anderen Ländern durch hohe Zölle ausgleichen. Das kann auch die Schweiz treffen, doch dürfte diese nicht im Vordergrund stehen. Zwar erzielte die Schweiz im Warenhandel mit den USA 2023 einen Exportüberschuss von 34 Milliarden Franken, doch wegen der starken Präsenz der amerikanischen Tech-Firmen in der Schweiz resultierte aus dem Dienstleistungshandel gleichzeitig ein Defizit von 23 Milliarden Franken. Zudem sind Schweizer Firmen die weltweit siebtgrössten Direktinvestoren in den USA, die Schweiz ist mit ihren Hochschulen ebenso für die Tech-Firmen interessant.
2023 exportierte die Schweiz 18 Prozent aller Exporte (insbesondere Pharmaprodukte) in die USA. Nach China gingen 6 Prozent und in die EU 50 Prozent. In einem Umfeld zunehmender geopolitischer Spannungen tut die Schweiz gut daran, weiterhin auf diversifizierte Handelsbeziehungen zu setzen und gute Wirtschaftsbeziehungen mit den USA, China und anderen Schwellenländern zu pflegen.
Am WEF unterzeichnete Wirtschaftsminister Guy Parmelin neue Freihandelsabkommen mit Kosovo und Thailand. Für sich alleine gesehen sind diese Verträge nicht bedeutend. Nach Thailand gehen bis heute bloss knapp 0,4 Prozent aller Schweizer Exporte. Doch Thailand ist bloss ein Land Südostasiens mit seinen rund 650 Millionen Einwohnern. Mit Indonesien wurde bereits ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, die Verhandlungen mit Malaysia und Vietnam sind weit fortgeschritten.
Das ändert allerdings nichts daran, dass Freihandelsabkommen gegenüber der multilateralen Handelsliberalisierung nur die zweitbeste Lösung sind und die Eidgenossenschaft bisher kein Abkommen mit den USA schliessen konnte. Es ändert auch nichts daran, dass für die Schweizer Wirtschaft der gleichberechtigte Zugang zum EU-Binnenmarkt mit Abstand der wichtigste bleibt.
6. Milei und Trump: ähnlich und doch verschieden
Aufgefallen ist nebst Donald Trump am WEF auch der argentinische Staatschef Javier Milei. Mit einer radikalen Liberalisierungspolitik und einer drastischen Kürzung der Staatsausgaben ist es Milei im vergangenen Jahr gelungen, eine eindrückliche Trendwende in seinem heruntergewirtschafteten, von Hyperinflation, Überschuldung und Klientelwirtschaft geplagten Land herbeizuführen.
Nebst ihrer Begeisterung für Freiheit und Unternehmertum und einer anscheinend persönlichen Freundschaft teilen Milei und Trump eine tiefe Abneigung gegen politische Korrektheit und «Wokeismus», die sich allerdings mit einem eigenartigen Drang zu einem rechtskonservativen Kulturkampf paart, der Abtreibungen ablehnt und in Orbans «illiberaler Demokratie» eine Verbündete im Geiste sieht.
Für Milei sind Feminismus und jegliche «guten Zwecke», denen sich Staat, Unternehmen und Organisationen wie das WEF gemeinsam verschreiben, bloss Instrumente der Elite, um sich Macht und Privilegien zuzuschanzen. Trump scheint ähnlich zu denken. Eilfertig haben viele grosse Konzerne prompt damit begonnen, sich aus internationalen Verpflichtungen im Bereich Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) zurückzuziehen.
Ganz unterschiedlich denken Milei und Trump hingegen, wenn es um Freihandel und Wettbewerb geht. Milei wehrt sich gegen jegliche Einschränkungen des freien Wettbewerbs und gegen Protektionismus. Trumps «America first» präferiert da doch lieber «America alone».
7. Weniger «Wokeismus», aber wieder ein WEF
Vor allem in den USA ist es im Zusammenhang mit immer enger definiertem korrektem Verhalten zu übertriebenen Einschränkungen der individuellen Freiheit gekommen. Einseitige staatliche Bevorzugungen wie Frauenquoten und Ähnliches können diskriminierend sein und signalisieren, dass sich die Betroffenen ihre Position nicht durch wettbewerbsfähige Leistung erworben haben.
Auch ist es nicht die vordringliche Aufgabe der CEO, Politik zu betreiben. Sie müssen sicherstellen, dass ihre Unternehmen innovativ und kostengünstig gefragte Produkte und Dienstleistungen herstellen und damit Gewinn erzielen. Weil es in ihrem eigenen Interesse ist, werden die Firmen auch so weiter ihre Umwelteffizienz verbessern, auf Diversität in ihrer Belegschaft achten und die Interessen der Stakeholder einbeziehen.
Weniger hochtrabender «Wokeismus» wird deshalb die Welt kaum schlechter machen. Doch Mileis Forderung, alle staatlich unterstützten Versuche niederzureissen, die wie das WEF die Welt ein bisschen besser machen wollen, schiesst übers Ziel hinaus.
Gerade in Zeiten zunehmender geopolitischer Konflikte und ökonomischer Spannungen machen nicht alle Probleme an den Landesgrenzen halt. Völlig unregulierte Märkte können nicht alles lösen.
Eine Plattform wie das WEF, auf der sich Wirtschafts- und Regierungsvertreter, Teilnehmer aus der Wissenschaft und von Nichtregierungsorganisationen austauschen und über Lösungen für die Probleme der Welt nachdenken, ist eine sinnvolle Reaktion auf die Globalisierung. Das wird auch bei der 56. Jahresversammlung des WEF im kommenden Jahr so sein.
Höchste Zeit, dass Europa reagiert
So unbequem manches in europäischen Ohren tönen mag, es zeigt schonungslos die Schwächen Europas. Der Wettbewerbsdruck nimmt zu, und der alte Kontinent droht ins Hintertreffen zu geraten. Seine Politiker und viele seiner Erwerbstätigen sind gut abgesichert und deswegen weniger «hungrig» als die Konkurrenz in den USA und in Asien, wie es ein Industrieller in Davos ausdrückte.
Nicht aufwendigere Buchhaltungspflichten und Planvorgaben schaffen Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Auch die EU sollte jetzt auf die Herausforderung durch Washington reagieren und endlich Regulierungen und Bürokratie abbauen. Um mithalten zu können, sollten die europäischen Länder steuerlich attraktiver werden.
Europa braucht eine günstigere und sichere Energieversorgung und einen effizienten integrierten Strommarkt. Die EU sollte sich wieder auf ihre Ursprünge und die Stärken eines liberalen, integrierten Binnenmarktes mit ungehindertem Wettbewerb zurückbesinnen und diesen weiter ausbauen. Europa muss mit einer integrierten und effizienten Kapitalmarkt- und Bankenunion den USA rasch die Stirn bieten.
Jeder europäische Staat ist für sich allein zu klein, um geopolitisch eine Rolle zu spielen und der Macht eines ruchlosen Stärkeren etwas entgegenzuhalten. Freiheit und Frieden sind keine Selbstverständlichkeit mehr – Russland befindet sich bereits in einem hybriden Krieg gegen die Ukraine und den ganzen als dekadent empfundenen alten Kontinent.
Trumps Forderung, dass die europäischen Staaten künftig eher 5 als 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für militärische Abschreckung aufwenden, ist daher plausibel. Polen ist bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Doch ebenso wichtig ist eine agilere Koordination der Aussen-, Sicherheits- und Rüstungspolitik, die auch Grossbritannien einbezieht.
Verzweifelt am Alten festhalten und meinen, alles besser zu wissen, führt in die Sklerose. Europa muss aufwachen – sonst wandern das Kapital, die besten Talente und mit ihnen die Zukunft in die USA oder nach Asien ab. Hoffnungsvoll stimmt, dass in Davos ein Ruck zu spüren war: Zumindest das Problembewusstsein scheint da zu sein. Dem unangenehmen Trump sei Dank.