Die ukrainische Stadt Cherson liegt direkt an der Front. Russland betreibt mit Kampfdrohnen eine eigentliche Menschenjagd. Das zwingt Einrichtungen wie Spitäler, ihre Arbeit in die Kellergeschosse zu verlegen.
Die Mitarbeiter des Spitals in der Stadt Cherson hasten über den leeren Parkplatz. Der Blick wechselt von der Armbanduhr in Richtung Himmel. Um die Mittagszeit sei es normalerweise ruhiger, sagt der Chefarzt Wiktor Korolenko. Doch sicher sei man in Cherson nie.
Die Stadt liegt am Fluss Dnipro und nur wenige Kilometer von den russischen Truppen entfernt. «Die Angriffe mit Kampfdrohnen und Raketen folgen keiner Logik. Sie finden zu jeder Tages- und Nachtzeit statt», sagt der 58-Jährige. Er öffnet eine schwere Tür und geht die Treppen nach unten in den frisch gestrichenen Schutzkeller. Seit kurzem stehen dort Operationstische, Sauerstoffgeräte und Betten für zwanzig Patienten bereit.
Die neue unterirdische Station hat ein eigenes Labor, einen Stromgenerator und eine kleine Kantine. Das Wichtigste sei, dass das Krankenhaus trotz den Angriffen weiterarbeiten könne. Denn jeden Tag kommen neue Verletzte dazu – Radfahrer, Autofahrer, Fussgänger. Die häufigsten Verletzungen stammen derzeit von Minen und Granatsplittern. «Das Schlimmste ist, wenn Kinder eingeliefert werden. Es ist unmöglich, diese Qualen mit anzusehen. Jeder von uns leidet darunter», sagt Korolenko.
Russland macht mit seinen Kampfdrohnen gezielt Jagd auf Zivilisten. Angefangen haben die Angriffe Ende des vergangenen Sommers. «Zuerst konnten wir nicht glauben, dass sie wirklich Zivilisten angreifen wollen», sagt Korolenko über die russischen Truppen. Aber um einen irrtümlichen Beschuss könne es sich nicht handeln. «Die Drohnenpiloten können die zivilen Fahrzeuge und die Krankenwagen aus der Luft deutlich erkennen.» Zudem beschiesst Russland mit Granaten und Bomben immer öfter auch das Spital. Neun Mitarbeiter wurden in den vergangenen Monaten verwundet, eine 24-jährige Krankenschwester getötet.
In den ersten Tagen nach der Invasion erobert
Vor dem Krieg hatte das Spital 1200 Mitarbeiter, 650 sind geblieben. Das Personal reiche heute aus, weil die Bevölkerung geschrumpft sei, sagt der Chefarzt. In der Stadt leben laut der Militäradministration noch 66 000 der ursprünglich 275 000 Menschen. Korolenko erinnert sich zurück an die Anfangszeit, als der Krieg für die Bewohner überraschend über das ganze Land zog. Schon wenige Tage nach der russischen Invasion im Februar 2022 geriet Cherson unter feindliche Besetzung. In den ersten Wochen lebte Korolenko mit einigen Mitarbeitern, ihren Familien und zwei Hunden im Keller des Spitals. Nach drei Monaten gelang ihm die Flucht. «Wir sind heute nicht mehr dieselben Menschen wie damals», sagt Korolenko. «Manchmal denke ich, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem es kein Zurück mehr in den Frieden gibt.»
Die Stadt wirkt dieser Tage wie ausgestorben. Es gibt kaum Fussgänger, kaum fahrende Autos. Nur an den Bushaltestellen versammeln sich Dutzende von Einwohnern kurz vor Abfahrt der öffentlichen Verkehrsmittel, um ja nicht zu lange unter freiem Himmel zu stehen und zu warten. Die Angst spüre man nicht, wenn man auf die Arbeit konzentriert sei, sagt der Arzt. Doch sobald sein Dienst beendet sei, fahre er so schnell wie möglich nach Hause. «Das Leben fühlt sich jeden Tag wie neu an, wie eine Glückslotterie», sagt Korolenko.
Cherson im Süden der Ukraine war die einzige regionale Hauptstadt, die Russland nach Beginn des grossen Krieges besetzen konnte. Gut acht Monate später, im November 2022, gelang es der ukrainischen Armee, Cherson und das übrige Gebiet der Region am rechten Flussufer des Dnipro zurückzuerobern. Damals fielen sich die Bewohner auf dem zentralen Freiheitsplatz mit Tränen in den Augen um den Hals, trafen Freunde und Familien wieder, sangen Lieder und schwenkten die ukrainische Flagge.
Heute erinnern am selben Platz Fotos und Gedenktafeln an die gefallenen Soldaten. Vor den Eingangstüren zu den Supermärkten und dem Vodafone-Geschäft schützen Sandsäcke und Betonblöcke vor den Druckwellen der Explosionen. Die Fensterscheiben der Häuser sind grösstenteils mit Spanplatten ausgekleidet. Die Strasse, die in Richtung Ufer führt, endet vor Panzersperren. Kaum ein Haus ist unbeschädigt. Die Euphorie aus den Tagen nach der Befreiung Chersons ist der ständigen Angst gewichen. Denn seitdem sich die russischen Truppen auf die andere Seite des Flusses zurückgezogen haben, befindet sich Cherson direkt an der Front.
Trotz Gefahr wollen längst nicht alle weg
Sie könne sich nur noch an die Explosion erinnern und daran, dass sie unter Trümmern aufgewacht sei, erzählt die 74-jährige Rentnerin Olena, die aus Angst nur ihren Vornamen nennen will. Vor mehr als einem Monat wurde sie ins Spital gebracht. Sie zeigt ihre Arme und den Verband um ihren Oberkörper, dann zählt sie auf: «Drei gebrochene Rippen, ein gebrochener Arm, zwei Darmoperationen.» Als der Angriff aus der Luft geschah, hielt sie sich in ihrem Haus in einem Dorf in der Nähe der Stadt Cherson auf. Seitdem liegt sie im Spital. Oft könne sie wegen der Explosionen nicht einschlafen. Doch ihre Heimatstadt verlassen wolle sie trotzdem nicht. «Ich habe hier Kinder, mein Sohn kämpft an der Front, und mein Enkel ist hier», sagt Olena.
Etwa 80 Prozent der Bewohner seien laut der Militärverwaltung von Cherson ältere Menschen, die teilweise in anderen Ortschaften der Region in temporären Behausungen untergebracht würden, sagt Jaroslaw Schanko, der stellvertretende Leiter der Provinzverwaltung. Er ist unter anderem für den Gesundheitsbereich und sozialen Schutz zuständig. «Die Russen wollen die Zivilbevölkerung einschüchtern. Es ist ihnen egal, wer dabei stirbt – ob Kinder, ältere Menschen oder Frauen», sagt der 34-Jährige. Seit Monaten läuft die Evakuierung von Zivilisten, vor allem von Familien mit Kindern. Doch gerade die älteren Menschen wollen ihr Zuhause nicht verlassen. Das seien Menschen, die ihr ganzes Leben hier verbracht hätten und weder finanzielle Mittel noch Verwandte in anderen Landesteilen besässen, erklärt Schanko.
Kein russischer Friedenswille erkennbar
Deshalb müssen die Gesundheitseinrichtungen weiterhin betrieben werden. Bereits sieben Spitäler und Kliniken in der Region wurden unterirdisch ausgebaut, um eine Behandlung von Zivilisten und Militärpersonen auch während Angriffen zu gewährleisten. Weitere vierzehn Einrichtungen befinden sich im Bau. «Eigentlich müssen wir alles unter die Erde verlegen, denn es gibt keine einzige Gesundheitseinrichtung in der Region, die seit Kriegsbeginn nicht beschossen worden wäre», sagt Schanko.
Für ihn ist nicht ersichtlich, dass Russland für einen Waffenstillstand bereit wäre. Im Gegenteil: Die Angriffe haben sich in letzter Zeit intensiviert. «Früher gab es diese Angriffe vor allem am Stadtrand, jetzt greifen sie damit auch das Stadtzentrum und Wohngebiete an, die weiter vom Dnipro entfernt sind», sagt er. Seit kurzem treffen auch gelenkte Fliegerbomben das Stadtzentrum.
Als die Ukrainer im November 2022 die Stadt befreiten, hingen dort noch immer die Plakate, die Werbung für das illegale Referendum über den Anschluss der Region an Russland machten. Während der Besetzungszeit wurden im September 2022 nicht nur die Provinzen Luhansk und Donezk im Osten, sondern auch Cherson und Saporischja im Süden des Landes zu russischem Staatsgebiet erklärt. Bis heute beharrt der Kreml auf diesen territorialen Ansprüchen. Die Angst, dass die Angreifer zurückkommen, ist gross. Denn die Schrecken der Okkupationszeit – die willkürlichen Verhaftungen und die Folterungen – sind unvergessen.
Der Krieg werde mit Verträgen enden, glaubt Korolenko. «Auf jeden Fall wird jeder seine eigenen Interessen verteidigen, Putin ebenso wie Trump», sagt er. «Wir sind Ärzte, wir gehen nicht mit Maschinengewehren herum. Wir erschiessen niemanden. Wir operieren und retten Menschen. Wir sind auch keine Politiker. Aber dieser Krieg findet auf unserem Territorium statt.» Deshalb müsse eine Lösung nachhaltig sein.
Die Fenster seines Spitals wurden ebenfalls teilweise mit Spanplatten ausgekleidet. Seitdem dringt kaum noch Licht in das Gebäude. Vor kurzem hätten einige seiner Mitarbeiterinnen freudig die Fenster geöffnet, als die Frühlingssonne durch die Wolken gebrochen sei. Manche seien ins Freie gegangen, um sich für einige Minuten in die Sonne zu stellen. «Ich musste sie wieder hineinschicken – es ist zu gefährlich draussen», sagt Korolenko. Drinnen sei es sicherer. Manchmal sehe man in der Gegend Bewohnerinnen, die Pflänzchen in Blumenbeete setzten, wie eine Ressource, als Zeichen des Neubeginns. Doch Hoffnung auf ein baldiges Leben in Frieden gibt es derzeit nicht.
Daniela Prugger ist freie Journalistin und lebt in Kiew.