Mittwoch, Oktober 2

Der französische Superstar hat es sich für seinen Traum vom Champions-League-Sieg mit Real Madrid sogar mit seinem Land verscherzt. Doch auch im königlichen Ensemble sorgt er für erste Missstimmungen.

Das «Schicksal» habe ihn zu Real Madrid geführt: So proklamierte Kylian Mbappé es im Juli nach seiner Präsentation im Estadio Santiago Bernabéu. Rund 80 000 Fans waren gekommen, über die hypermoderne 360-Grad-Videoleinwand flirrten seine besten Tore. Bei Real Madrid ist keine Bühne zu gross, kein Wort zu bombastisch, und Mbappé bediente die hauseigene Sehnsucht nach Pathos gekonnt in bestem Spanisch: «Ich weiss, dass es schwierig war», sagte er, als handele es sich bei den gegenseitigen Transferflirts um eine verbotene Liebe, die ganze Königreiche von Mauern und Konventionen einreissen musste: «Aber wir haben gewonnen, und hier bin ich.»

Kylian Mbappé Full Presentation at Real Madrid

Freilich ist selbst in der Traumfabrik Fussball ein Transfer noch kein Titel. Nicht das Ziel, nur eine Etappe des Weges, und wie beschwerlich der noch werden könnte – auch das hat Mbappé schon erfahren. Im spanischen Championat hat sein Madrid schon mehrfach gepatzt, und vom bekannt anspruchsvollen Publikum im Bernabéu bekam er bei einer verunglückten Aktion bereits Pfiffe zu hören. Es dauerte bis zum vierten Ligaspiel, ehe er mit seinem 24. Saisontorschuss sein erstes Tor erzielte.

Neuauflage der Galaktischen

Nun beginnt am Dienstag mit einem Besuch des VfB Stuttgart die Champions League. Sie ist die eigentliche Raison d’être dieses Vereins, der sie schon sagenhafte fünfzehnmal gewonnen hat, zuletzt dieses Jahr im Final gegen Dortmund. Sie ist aber auch das entscheidende Motiv, warum Mbappé den Sirenen seines Schicksals nach manchem «Non» der Vergangenheit nun doch erlegen ist.

Bei all seiner lebenslangen Verehrung für Real, versinnbildlicht in einem Miniatur-Bernabéu, das er als Achtjähriger geschenkt bekam und eigens zu seiner Vorstellung mitbrachte – eine Hunderte Millionen Euro schwere Ich-AG wie Mbappé handelt nicht mehr aus purer Romantik. Der Franzose ging nach Madrid, weil er endlich die Champions League gewinnen will.

Titelverteidiger plus Superstar; sechs Champions-League-Triumphe in den letzten elf Saisons plus 286 Tore in 373 Klubspielen: Ergibt diese neue Liaison also erst recht einen brillanten Europacup-Sieg? Es ist die Frage der Saison.

Wer sie schon aus scheinbarer Zwangsläufigkeit bejahen will, kennt den Fussball schlecht. Nicht umsonst löst es bei älteren Real-Fans nicht nur Frohlocken aus, wenn jetzt im Zusammenhang mit Mbappé und weiteren im Klub angestellten Granden wie Vinícius Júnior und Jude Bellingham wieder das Wort von den «Galaktischen» aus den Lexika hervorgeholt wird. Im Original besetzten diese Rollen einst Zinédine Zidane, Luis Figo, Ronaldo Nazário und David Beckham. Sie galten als unschlagbar – und gewannen während ihrer gemeinsamen Real-Zeit keinen einzigen Titel.

Auch im Jahr 2024 besteht die Gleichung nicht nur aus einer simplen Addition. Denn zum einen hat der Chefmathematiker das Team verlassen: In Toni Kroos beendete der Spieler seine Karriere, der Reals Fussball die Struktur gab. Ohne Passkunst, Übersicht und Rhythmuswechsel des Deutschen wirkte das königliche Spiel zu Saisonbeginn arg linear. Die verbliebenen Mittelfeldspieler wie Bellingham, Federico Valverde oder Eduardo Camavinga sind allesamt dynamisch und vielseitig, aber zum Spielmacher taugt allenfalls noch Luka Modric, und der ist schon 39 Jahre alt.

Doch auch in Mbappés ureigenem Revier ist die Sache komplex. Der Franzose bevorzugt die Linksaussenposition. Bei seinem Ex-Klub Paris Saint-Germain gab es immer wieder Streit, wenn die Trainer ihn lieber im Zentrum aufboten. Für das Mittelstürmerspiel erfüllt er wenige Profilanforderungen, weder ist er sonderlich stark im Kopfball noch darin, sich mit dem Rücken zum Tor mit gegnerischen Innenverteidigern herumzuschlagen. Nur vom Flügel her findet er den Raum, um seine grossen Stärken im Dribbling und in der Geschwindigkeit auszuspielen. Das Problem: Bei Real ist die Linksaussenposition schon besetzt, und zwar von Vinícius – dem gegenwärtigen Favoriten auf die Auszeichnung zum Weltfussballer, die Mbappé noch nie gewonnen hat.

Mitten in dieses Puzzle hinein erlebte der neue Galaktische zuletzt eine deprimierende Woche mit der französischen Nationalelf. Gegen Italien gab es eine 1:3-Heimniederlage, erst als er gegen Belgien auf die Bank gesetzt wurde, lief es mit einem 2:0 besser. Die Kritiken hätten heftiger kaum ausfallen können. «Mbappé ist nicht mehr so explosiv und entscheidend wie früher», analysierte Bixente Lizarazu, Weltmeister von 1998: «Er bleibt ein guter Spieler, aber er flösst nicht mehr so viel Respekt ein.» Der damalige Teamkollege Christophe Dugarry findet Mbappés Darbietungen «schon seit langem medioker» und zetert: «Er denkt an alles, nur nicht an den Fussball.»

Grosse Hoffnungen auf Ancelotti

Mbappé war lange der liebste Sohn der Republik, doch nach diesem Sommer ist er nicht mehr sakrosankt. Bei der EM enttäuschte er mit nur einem Treffer (per Elfmeter), mit dem Wechsel nach Madrid verzichtete er auf die Olympischen Spiele in seiner Geburtsregion Paris, und die politische Rechte wartet sowieso auf jede Gelegenheit zum Denkmalsturz, seit er sich im Parlamentswahlkampf gegen die Partei von Marine Le Pen positioniert hat.

Alles erregt plötzlich Argwohn – ob unter seinen Lobhudeleien für Madrid seine neun Jahre in der Ligue 1 plötzlich nur noch wie eine Art Warmlaufen daherkommen oder ob seine Pressekonferenzen bei der Nationalelf als desinteressiert und lapidar beurteilt werden. «Beschämend» fand Lizarazu gar eine Audienz von letzter Woche.

Da scheint bestens ins Bild zu passen, dass Mbappé im Streit mit PSG um ausstehende 55 Millionen Euro an Gehältern und Prämien eine von der französischen Liga vorgeschlagene Mediation ablehnte. Zwar gab ihm deren zuständige Kommission prinzipiell recht, die ordentliche Justiz könnte es jedoch anders sehen. Es wartet ein womöglich jahrelanger Prozess vor dem Arbeitsgericht.

«Ich habe viel mehr Frieden hier», sagt Mbappé demgegenüber zur Situation in Madrid. Allerdings liess dort der dritte Stürmer Rodrygo wiederholt durchblicken, sich nur noch wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen, während Skeptiker den bescheidenen Saisonstart von Vinícius ebenfalls mit den Veränderungen im Ökosystem begründen. Alle Hoffnungen liegen auf Trainer Carlo Ancelotti, der sich in den vergangenen Jahren als begnadeter Problemlöser und Teambuilder erwiesen hat.

Das Schicksal, was hat es weiter mit ihm vor? Mbappé könnte sich auf den letzten grossen Galaktischen berufen, sein Kindheitsidol Cristiano Ronaldo. Nach dessen Ankunft bei Real 2009 dauerte es fünf Jahre, bis die Champions League gewonnen wurde. Doch angesichts von Reals jüngsten Erfolgen wird ihm diese Zeit niemand geben.

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