Das Odessa-Museum gehört zu den drei bedeutendsten Kunstinstitutionen der Ukraine. Die Berliner Gemäldegalerie zeigt eine Auswahl der Bestände und setzt sie in Dialog mit eigenen Werken.
Es war ein trauriger Geburtstag. Hundert Jahre nach seiner Eröffnung am 8. Juni 1924 sah sich das Odessa-Museum für westliche und östliche Kunst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von Kriegsschäden, Zerstörung und Raub bedroht. Die gute Nachricht: Seine kostbarsten Schätze waren in Sicherheit. Nach Kriegsbeginn hatten sie zuerst in einem klimatisch ungenügenden oberirdischen Notlager ausserhalb von Odessa Aufnahme gefunden. Dank einem Kooperationsprojekt zwischen dem ukrainischen Museum und den Staatlichen Museen zu Berlin konnten im September 2023 über siebzig Gemälde der Sammlung westlicher Kunst aus der Ukraine ausgeführt und in die Berliner Gemäldegalerie gebracht werden.
Von Anfang an bestand die Absicht, die Hauptwerke nach restauratorischen Massnahmen in einer grossen Ausstellung zu präsentieren. Da die Bilder ohne Rahmen evakuiert worden waren, mussten sie zudem neu gerahmt werden. Darüber hinaus konnten bei der Vorbereitung der Ausstellung Zuschreibungen und Datierungen mancher Werke überprüft und modifiziert werden. Bereits im Frühjahr 2024 war ein Ensemble von 14 Gemälden in einer Vorschau in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen.
Bewegte Sammlungsgeschichte
In der Geschichte der Sammlung spiegeln sich die komplexen Beziehungen der Ukraine zu Russland von der Zeit der Zarin Katharina, auf deren Befehl Odessa gegründet wurde, bis zu den Jahrzehnten der sowjetischen Herrschaft. Mitglieder der Odessaer Gesellschaft der schönen Künste hatten die Gründung eines städtischen Kunstmuseums initiiert, das 1899 eröffnet wurde. Bald danach wurde dessen Bestand durch eine Schenkung der Kaiserlichen Akademie von St. Petersburg wesentlich erweitert.
Weiteren Zuwachs brachten die während der Oktoberrevolution 1917 von emigrierten privaten Sammlern zurückgelassenen und vom Museum konfiszierten Werke. 1923 wurde das Städtische Museum aufgelöst, die Sammlung ging ebenso wie jene der Universität in das neue Museum für westliche und östliche Kunst über. In den dreissiger Jahren kam es durch den Staatlichen Museumsfonds der Sowjetunion zu zahlreichen Neuzugängen.
Die deutsch-rumänische Besetzung überdauerte ein Teil der Sammlung in Russland, das Museum in Odessa wurde geplündert. In der Nachkriegszeit konnten die Bestände allmählich wieder aufgebaut werden. Erstmals wurden auch Teile der Sammlung im westlichen Ausland gezeigt. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 geniesst das Museum den Status einer der drei führenden Kunstinstitutionen des Landes. Es ist in einem Palast untergebracht, der zwischen 1856 und 1858 nach einem Entwurf des französischen Architekten Louis Otton erbaut wurde und als Architekturdenkmal von nationaler Bedeutung gilt.
Das Berliner Ausstellungsprojekt bringt eindrücklich zur Geltung, dass zwischen der Gemäldesammlung in Odessa und den Berliner Beständen zahlreiche Gemeinsamkeiten hinsichtlich Künstler und Bildthemen bestehen. Um die Berührungspunkte zu veranschaulichen, werden 60 Hauptwerke aus der Ukraine mit 25 Exponaten der Staatlichen Museen zu Berlin in einen Dialog gebracht.
Schwerpunkte und Entdeckungen
Die Ausstellung skizziert zunächst den zeitgeschichtlichen Horizont. Einen prominenten Auftritt haben zwei für die Geschichte der Hafenstadt am Schwarzen Meer prägende Persönlichkeiten: einerseits der vom Trentiner Johann Baptist von Lampi porträtierte, aus Katalonien stammende Admiral Joseph de Ribas. Andererseits der russische Generalgouverneur Graf Woronzow, der sich von Thomas Lawrence in London malen liess.
Beide stehen für die internationalen Verflechtungen der Hafenstadt. Zu den imposanten Herren gesellen sich zwei elegante Damen: die von ihrem Vater Rinaldo Boldrini porträtierte Sängerin Emilia Boldrini, ein Star der Oper von Odessa, und Olena Tolstoi, die aus einfachen Verhältnissen stammende Gattin des Grafen Tolstoi, eines angesehenen Odessaer Literaten und Kunstsammlers.
Der Parcours durch das Kunstschaffen aus einer Zeitspanne vom 16. bis zum 19. Jahrhundert setzt sich fort mit biblischen und mythologischen Historien von italienischen und niederländischen Meistern. Die Marienbilder setzen einen ersten Schwerpunkt.
Reizvoll ist die Gegenüberstellung zweier thematisch verwandter Werke des Florentiner Malers und Michelangelo-Freundes Francesco Granacci. Die «Thronende Madonna mit Kind und Johannesknabe» aus Odessa zeigt plastisch modellierte Figuren vor gleichsam gemeisselten Draperien und Architekturelementen, während die weicher gezeichneten Heiligengestalten der frühen Berliner «Sacra Conversazione» in eine sanfte Landschaft eingebettet sind.
Von hier führt der Weg durch die Epochen: Nahsichtig gemalt das Andachtsbild der «Beweinung Christi» nach Gerard David; an Raffael erinnernd das anmutige Brustbild Marias von Sassoferrato; in eine Skala von Brauntönen gebettet die stillende Muttergottes, die der Franzose Dagnan-Bouveret in Anspielung auf den Beruf Josefs in der Werkstatt eines Zimmermanns platziert hat. Unkonventionell auch die in der Tracht eines Bauernmädchens dargestellte «Madonna mit Kind» des Finnen Albert Edelfelt.
Unter den italienischen Malern des Barocks fallen Bernardo Strozzi und Alessandro Magnasco mit bedeutenden Werken auf. In seinem «Ecce Homo» lehnt sich Strozzi an Caravaggios Komposition an. Diese stellt den Moment dar, in dem Pontius Pilatus den gegeisselten Christus vor der Kreuzigung der Menge präsentiert. Magnasco, Genuese wie Strozzi, griff ein weiteres damals beliebtes Motiv auf: die Büsserin Maria Magdalena. Umgeben von ihren Attributen, ist sie wie eine Staffagefigur in eine schummerige Waldlandschaft versetzt.
Für Magnascos Exzentrik und Originalität, aber auch für seine schnelle, skizzenhafte Pinselschrift und die gleissenden Farbakzente steht exemplarisch die figurenreiche Komposition «Erholung der Komödianten». Geradezu morbid wirken seine «Mönche bei der Rasur» in einem Dschungel voller Rasierutensilien.
Ein weiterer Fokus der beziehungsreich und ästhetisch einfühlsam inszenierten Schau gilt der holländischen und flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts: Zu sehen sind Vinckboons’ Adaption von Pieter Bruegels «Blindensturz», Charakterköpfe (Tronien) von Abraham Bloemaert sowie Hummerstillleben von Jan Davidszoon de Heem und seinem Sohn Cornelis.
Die eigentlichen Glanzstücke aber sind die beiden Evangelisten Lukas und Matthäus. Sie stammen aus der Sammlung der Zarin Katharina II. 1959 wurden sie im Depot des Museums unter dem Namen eines unbekannten Russen aufgefunden, dann aber als Werke von Frans Hals identifiziert. Zusammen mit zwei weiteren Evangelisten-Darstellungen sind es die einzigen Arbeiten von Hals mit religiöser Thematik.
In der gewichtigen Abteilung «Licht und Farbe in der Malerei des 19. Jahrhunderts» fällt ein tragisches Geschehen durch Inhalt und Komposition ins Auge: Jules-Alexis Mueniers «Streit der Kutscher». Es lebt vom scharfen Kontrast zwischen dem Mordanschlag und dem hellen Licht des Sommers an der Côte d’Azur. Der Ausklang der Ausstellung hält noch weitere Entdeckungen bereit, darunter eine blinde Bettlerin in einer römischen Katakombe, bühnenartig in Szene gesetzt von Gabriel von Max. Dann auch zwei Werke des norwegischen Landschaftsmalers Frits Thaulow, die durch das virtuose Spiel mit Lichteffekten faszinieren.
Im Gemeinschaftsunternehmen von Berlin und Odessa haben Kunst und Politik auf exemplarische Weise und zum Nutzen beider Städte zusammengefunden. Eine international kaum bekannte Sammlung konnte vor den Kriegsereignissen in Sicherheit gebracht und für das westliche Publikum erschlossen werden. Zugleich stellt die Berliner Ausstellung einen Akt der Solidarität mit der Ukraine dar. Dies erklärt auch, weshalb die Ausstellungsmacher sich für die ukrainische Schreibweise Odesa entschieden haben.
«Von Odesa nach Berlin. Europäische Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts», Gemäldegalerie – Staatliche Museen zu Berlin, bis 22. Juni. Von 19. Oktober 2025 bis 22. März 2026 im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg. Katalog Euro 32.–.