Tagsüber ist der Verkehr in der britischen Kapitale die Hölle. Doch wenn sich in der Dunkelheit die Strassen leeren, dann wird die Stadt zur Spielwiese für Autonarren – und der einsitzige Bentley Blower ist das passende Spielzeug dafür.
Bentley oder BMW, Mercedes, Maybach oder AMG, Ferrari oder Rolls-Royce und natürlich auch Bugatti – Robert ist Busfahrer und hat vom Steuer seines roten Doppeldeckers aus schon so ziemlich alles gesehen in den Strassen von London. Erst recht hier im noblen Quartier Knightsbridge. Doch ein Bentley Blower ist ihm in freier Wildbahn noch nicht vor den Bug gekommen.
Schliesslich wurden von dem wohl berühmtesten aller britischen Oldtimer nur gerade 55 Exemplare gebaut, und das ist jetzt fast 100 Jahre her. Ausserdem geht der Wert schnell in den zweistelligen Millionenbereich, wenn denn mal einer in den Handel kommt. Damit wagt man sich nicht in den alltäglichen Wahnsinn zwischen Westminster und Kensington, Notting Hill und Blackfriars.
Und doch kreuzt plötzlich ein solcher Klassiker vor Roberts Rotem Riesen, natürlich in British-Racing Green lackiert und auch noch mit dem Union Jack auf der Tür, als wollte er gerade noch einmal sein Glück in Le Mans probieren, wo er in den 1930er Jahren so grandios gescheitert ist.
Aber man muss kein Oldtimer-Experte sein für die Erkenntnis, dass hier irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Denn erstens wirkt der Blower verdächtig neu, er ist einen Hauch zu klein, und vor allem ist er flüsterleise. Wo der echte Blower – nomen est omen – mit dem Getöse eines wütenden Elefanten davonstürmt, wenn der Kompressor erst einmal Druck macht, surrt dieser hier um den Buckingham-Palast, als wolle er King Charles nur ja nicht die Nachtruhe rauben. Schliesslich hat Big Ben längst zwölfmal geschlagen und die Geisterstunde eingeläutet.
Also nur ein billiger Fake? Billig vielleicht, erst recht für einen Bentley. Denn günstiger als dieses hier ist ein Auto mit dem Flying B auf dem Kühler nicht zu bekommen. Aber ganz sicher keine Fälschung. Schliesslich hat der stille Sonderling nicht nur den Segen der Bentley-Designer und Historiker, sondern steht auch ganz offiziell im Konfigurator auf der Homepage der vornehmen VW-Tochter.
Gebaut wird er allerdings nicht von Bentley in Crewe, sondern von den Hedley Studios in Bicester, die bis vor kurzem noch als «The Little Car Company» firmiert haben. Doch weil ihm das zu sehr nach Spielzeug klang, hat Firmenchef Ben Hedley nun stattdessen seinen eigenen Namen eingesetzt. Dabei war der alte ganz passend; im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Im wörtlichen, weil Hedleys Autos tatsächlich nur drei Viertel des Originals messen. Und im übertragenen, weil sie so etwas wie Spielzeuge sind. Zumindest für grosse Jungs und solche mit tiefen Taschen, sehr tiefen Taschen sogar. Denn die Preise beginnen daheim in England bei knapp 40 000 Pfund, und beim einzigen Händler der Briten diesseits des Ärmelkanals, in Zürich, sind die Autos nicht minder teuer.
Schon Ettore Bugatti schrumpfte sein Vorzeige-Auto
Die Idee hat sich Hedley, früher mal Highspeed-Skifahrer mit Guinness-Buch-Eintrag, bei keinem Geringeren abgeschaut als bei Ettore Bugatti. Denn schon der hat den legendären Typ 35 nicht nur als Rennwagen für reiche Raser gebaut, sondern auch als elektrische Miniatur. Erst für seinen Sohn Jean zum vierten Geburtstag und danach für den Nachwuchs der zahlungskräftigen Kundschaft. Bugatti Type 52 lautete der offizielle Name des Winzlings, von dem – je nach Quelle – zwischen 70 und 250 Exemplare in den 1930er Jahren gebaut wurden.
Über solche Zahlen kann Hedley nur lachen. Denn in rund zwei Wochen Handarbeit baut seine Mannschaft in einer Backsteinhalle auf einem ehemaligen Stützpunkt der Royal Airforce mehr als 250 Fahrzeuge im Jahr – und eben nicht mehr nur den Bugatti, mit dem das Geschäft vor rund fünf Jahren begonnen hat. Sondern mittlerweile finden auch die Kinder von Ferrari-Fahrern, Aston-Martin- und jetzt eben auch Bentley-Kunden die passenden PS-Petitessen und spielen im 250 Testarossa, im DB5 samt 007-Gimmicks oder eben im Blower Junior – und in Letztgenanntem sogar auf öffentlichen Strassen. Zumindest wenn sie, je nach Land, nicht unter 15 oder 16 Jahre alt sind.
Denn der Bentley ist mit seinem Format von 85 Prozent des Originals nicht nur einen Hauch grösser als die anderen, sondern hat als Einziger auch eine Strassenzulassung und surrt wie etwa der Microlino als Leichtkraftwagen durch den Verkehr.
Wir haben es uns nicht nehmen lassen, die neuen Freiheiten auszukosten, die Hedley seinen Kunden mit dem Blower Junior bietet. Also haben wir die Stadt zu unserem Spielplatz gemacht und uns mit dem Bentley ins Abenteuer London gewagt. Tagsüber ist das allerdings eher Fluch als Segen, denn man schafft kaum mehr als Schritttempo, und in dem «Elefantenrollschuh» fühlt man sich trotz dem Sicherheitsgurt ein bisschen unbehaglich, wenn einem die anderen zu nahe kommen. Darum haben wir die Nacht zum Tag gemacht und sind erst zur Geisterstunde gestartet.
Während uns Big Ben mit tiefen Glockenschlägen den Weg am London Eye vorbei über die Westminster Bridge lockt, nimmt Junior Fahrt auf, surrt über The Mall und liefert sich spassige Sprintduelle mit den wenigen Taxis, die Nachtschwärmer nach Hause bringen. Ein kurzer Abstecher zu Harrod’s, wo die Reichen sich sonst gerne verwöhnen, im gewagten Drift um den Hyde Park Corner, und spätestens im Kreisel vor dem Buckingham Palace wird der Blower zum königlichen Vergnügen, so spielend leicht lässt sich der Junior hier um die Kurven zirkeln.
Während jede Kehre mit dem Original Schwerstarbeit ist und einem das Brennen in den Oberarmen schmerzlich klarmacht, weshalb man früher von Kraftfahrern gesprochen hat, hält man den Jüngling mit dem kleinen Finger auf Linie. Und wo man früher viel Geschick und Feingefühl beim Kuppeln und am Zwischengas brauchte, reicht jetzt der grosse Zeh. Einfacher war ein Vorkriegsauto noch nicht zu fahren. Oder zumindest eines, das so verdächtig nach jener Ära aussieht.
Der Blower Junior weckt Emotionen neuer Art
Doch dafür fehlt der Sinnesrausch, der einen Klassiker ausmacht. Es riecht nicht nach heissem Öl und verbranntem Gummi, es geht kein Beben durch den Wagen, wenn man den Motor anlässt. So liebevoll Hedley das Leder auch ausgewählt hat, so kunstfertig sein Team Holz gehobelt und Metall poliert hat, fehlt dem Neuwagen die Patina. Und vor allem brüllt beim Kickdown keine Fanfare durch die Nacht, weil der Blower Junior eben keinen Blower vulgo Kompressor hat, sondern stattdessen nur ein monotones Surren hören lässt.
Doch wenn der Bentley im Licht der riesigen Leuchtreklamen seine Runden um den Piccadilly Circus dreht und die Nachtschwärmer ihm zujubeln, spätestens dann hat der Fahrer ein breites Grinsen im Gesicht und sieht im Junior das bis dato vielleicht emotionalste Elektroauto überhaupt.
Auch wenn manche Hedleys Autos für Spielzeuge halten, weil oft Kinder am Steuer sitzen und weil der Antrieb ein elektrischer Industriemotor mit allenfalls 20 PS ist statt eines 4,4 Liter grossen Vierzylinders mit 240 PS, mangelt es seinen Miniaturen nicht an Ernsthaftigkeit. Nicht nur das Design ist eng auf den Hersteller abgestimmt, die Farbpalette wurde ebenfalls angeglichen. Schliesslich haben viele Kunden auch das Original in der Sammlung stehen oder wollen ihre kleinen Preziosen in Partnerlook passend zu einem Neuwagen.
Zudem treibt Hedley auch technisch einen hohen Aufwand, entwickelt ein seriöses Fahrwerk und testet jedes Modell über viele tausend Meilen. Das Ergebnis kommt viel näher an ein «echtes» Auto heran als andere Leichtfahrzeuge – und erst recht als ein originaler Blower: Federung, Lenkung und vor allem die Bremsen funktionieren so gut, dass man sich auf Anhieb gut aufgehoben fühlt im Junior und die Nachtschicht von der ersten Meile an geniessen kann.
Und wer glaubt, mit so wenig Leistung sei auch der Spass limitiert, der muss nur einmal morgens um drei mit Bleifuss über die Tower Bridge fahren – noch nie haben sich 72 km/h so stürmisch angefühlt und so viel Nervenkitzel verursacht. Kaum vorstellbar, dass die Bentley-Boys damals mit Tempo 200 mehr erlebten.
Dumm nur, dass die Energie nicht ewig reicht. Und zwar nicht die im 11 kWh grossen Akku des Bentleys, sondern die des Fahrers. Denn während Ersterer für 100 Kilometer Reichweite steht und nach dem nächtlichen Abenteuer noch immer halb voll ist, fährt Letzterer längst auf Reserve.
Doch da ein kurzer Stopp am Schnelllader und dort ein schneller Espresso, dann geht der Spass weiter. Die Nacht mag zwar zu Ende gehen. Aber der Tag ist noch jung, und solange die Strassen noch leer sind, können Garage und Bett weiter warten.