Dienstag, Oktober 15

Sparmassnahmen könnten demokratiepolitisch unerwünschte Folgen haben, sagt der Berner Volkswirt und Politikprofessor Adrian Vatter. Das sehe man unter anderem an den jüngsten Wahlen in Frankreich.

Adrian Vatter, in einer Kolumne in den Tamedia-Zeitungen stellten Sie die Frage: «Sparen wir uns zu Tode?» Daraufhin bekamen Sie heftige Reaktionen, etwa vom liberalen Think-Tank Avenir Suisse. Führt das bundesrätliche Sparpaket wirklich zu mehr Todesfällen?

Der Titel war etwas reisserisch, das gebe ich zu. Neue wissenschaftliche Studien anhand der Daten von 28 EU-Ländern weisen auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen den Auswirkungen der Fiskalpolitik und der Sterblichkeit hin. Demgemäss korrelieren Sparmassnahmen mit steigender Selbstmordsterblichkeit. Allerdings ist der kausale Mechanismus noch zu wenig bekannt. Und in Ländern mit einer harten Austeritätspolitik wie Griechenland ist der Effekt zweifellos grösser. Wir sollten uns deshalb vor der simplen Folgerung hüten, dass die im internationalen Vergleich eher moderaten Sparmassnahmen des Bundes die Menschen in den Freitod treiben. Doch generell können Sparpakete eine Reihe von gesundheitlichen Folgen mit sich bringen.

Gesundheitliche Folgen welcher Art?

Man unterscheidet zwischen direkten Gesundheitseffekten, die etwa durch schlechtere Gesundheitsversorgung entstehen, und indirekten sozialen Risikoeffekten, wie etwa durch allgemeine Unsicherheiten hervorgerufenem Stress. Der negative Effekt zeigt sich unabhängig von der Ausgestaltung. Zwar sind die ohnehin vulnerablen Bevölkerungsgruppen wie Sozialhilfebezüger besonders gefährdet. Doch es zeigt sich: Selbst bei innenpolitisch oft als «unproblematisch» bezeichneten Kürzungen wie etwa im Kulturbereich verschlechtert sich die mentale Gesundheit der Menschen. Aus föderalismuspolitischer Sicht ist die Kita-Vorlage interessant.

Der Bundesrat will die Beiträge an die familienergänzende Kinderbetreuung streichen. Derzeit sind für Kitas ab 2030 knapp 900 Millionen Franken eingeplant. Doch dem Bund droht ein strukturelles Defizit, und Kitas liegen in der Verantwortung von Gemeinden und Kantonen.

In der Schweiz laufen weniger als 50 Prozent der öffentlichen Finanzen über den Zentralstaat, was international äusserst wenig ist. Zurzeit baut sich vonseiten der Kantone Widerstand auf, weil aus ihrer Optik beim Sparpaket eine zu starke Lastenabwälzung auf die Kantone stattfindet. Doch die Kantone werden die gestrichenen Bundesmittel höchstens teilweise kompensieren können oder wollen. Am Ende sind die Gemeinden und Familien die Leidtragenden. Die Letzten beissen dann die Hunde, wie so oft im föderalistischen Gegeneinander.

Gut, dann können sich diese Familien kantonal für Kita-Subventionen einsetzen. Wir leben ja in einer halbdirekten Demokratie.

Klar, am Ende entscheidet die Mehrheit. Diese Entscheide können aber auf Kosten von Bevölkerungsgruppen gehen, die der Minderheit angehören. Am sensibelsten reagiert die Mehrheit auf Rentenkürzungen, etwa jüngst bei der Pensionskassenreform. Erstens, weil wir alle einmal alt werden. Zweitens, weil wir eine Überalterung bei denjenigen haben, die wählen gehen. Das Phänomen zeigt sich besonders auch in Frankreich.

In Frankreich kam es unter anderem wegen der Rentenkürzungen unter Präsident Emmanuel Macron zu Protesten, die Bilder der Gelbwesten-Bewegung gingen durch die Welt.

Ja, die Gelbwesten-Bewegung und die Rentenreform zeigen den Mechanismus gut auf: Wenn der Staat mit der Kürzung öffentlicher Dienstleistungen droht, geschieht das häufig bei den Renten und den Sozialtransfers, weil das die grössten Posten sind. In der Folge wenden sich enttäuschte Bürger von den Regierungsparteien ab und bleiben zu Hause. Oder sie wählen mehr radikale, extremistische Parteien. Die linkspopulistische La France insoumise und das rechtsextreme Rassemblement national feierten spektakuläre Erfolge. Die angestrebte Sparpolitik förderte daher die «Pulverisierung» der etablierten Parteien, die schon vor Macrons Rentenreform begonnen hatte, insbesondere bei den Konservativen. Das führt zu politischer Instabilität, wir sehen ja, wie schwierig es in Frankreich ist, eine Regierung zu bilden.

Auch gesunde Staatsfinanzen sorgen für politische Stabilität. Das Erfolgsmodell Schweiz hat im internationalen Vergleich tiefe Schulden, das fördert den Konsum und Investitionen. Im Gegenzug geniessen wir eine tiefe Arbeitslosenquote und eine vergleichsweise tiefe Inflation. Dem sollten wir Sorge tragen.

Das ist richtig. Daraus lassen sich aber zwei unterschiedliche Schlüsse ziehen. Einerseits: Um harte Austeritätspakete mit hohen politischen und menschlichen Kosten wie zurzeit in Argentinien zu vermeiden, sollten wir den Staatshaushalt in Ordnung halten und schon jetzt Entlastungspakete schnüren. Andererseits: Schon kleinere Ausgabenkürzungen, etwa bei den Renten, sorgen für Umverteilung von unten gegen oben, fördern nachweislich die Polarisierung und stärken radikale Parteien. Es ist also eine schwierige Gratwanderung, die die Politik machen muss.

Der argentinische Präsident Javier Milei konnte dank seinem harten Sparkurs die Hyperinflation senken. Die Armut nahm anfänglich zu, doch mittlerweile steigen die Renten und Löhne wieder. Zeigt das nicht, dass kurzfristige Opfer nötig sind für langfristigen Wohlstand?

Grundsätzlich ist es völlig richtig, dass man auf eine tiefe Staatsverschuldung achtet, um die Schuldzinsen tief zu halten und finanziellen Spielraum zu haben. Doch Mileis Beispiel bestätigt meine Analyse: Argentinien hat eine Geschichte höchster Staatsverschuldung, 2001 ist der Staat fast kollabiert. Dass ein Politiker wie Javier Milei mit seiner Kettensägen-Rhetorik und seinen extrem libertären Positionen überhaupt gewählt wird, hat natürlich mit dieser Situation zu tun. Seither hat er Zehntausende Stellen in der Verwaltung gestrichen. Diese Menschen stehen jetzt auf der Strasse, dazu kommen Rentenkürzungen. Gerade letzte Woche gab es daher wieder Riesendemonstrationen.

Ist die Ursache der erodierenden Mitte nicht eher die Migration als die Sparpolitik? Eine zunehmende Polarisierung sieht man auch in Deutschland, wo die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) Erfolge feierten, oder in Österreich, wo die FPÖ erstarkt ist.

Die drei Parteien AfD, BSW und FPÖ dürfen nicht über einen Kamm geschert werden. Bei den deutschen Landtagswahlen wurde die AfD vor allem aus Unzufriedenheit mit der Politik der Ampelregierung gewählt, in der Tat gerade wegen der Migrationsfrage. Bei den Wahlmotiven für das linkspopulistische BSW spielen vor allem aussenpolitische sowie Anti-Elite-Einstellungen eine starke Rolle. Im Gegensatz dazu ist die Migrationspolitik weniger ausschlaggebend. Aber mir geht es vor allem darum, die Diskussion über die Sparvorlagen zu erweitern: Bisher standen die ökonomischen und fiskalpolitischen Folgen im Vordergrund. Es ist wichtig, dass wir auch über die politischen Folgen reden: Wähler könnten sich vermehrt polarisierten Parteien zuwenden oder gar nicht an die Urne gehen. Das ist demokratiepolitisch nicht wünschenswert.

Die Bevölkerung kann wählen, wen sie für geeignet hält. Das ist Demokratie.

Natürlich, ich weise nur auf die Folgen hin. Politikwissenschaftlich ist sehr gut belegt, welche Folgen das Einbinden von autoritär-populistischen Parteien in die Regierungsverantwortung hat: Solche Parteien beeinflussen die Ausgestaltung öffentlicher Politik durch Normalisierung vormals extremer Positionen, etwa in der Zuwanderung. Auch hat ihre Einbindung demokratiepolitisch hohe Kosten – sowohl was den Abbau liberaler Freiheitsrechte angeht als auch die Stabilität der Demokratie insgesamt. Zudem sollten Sie nicht vergessen: Eine deutliche Bevölkerungsmehrheit hat nicht AfD, BSW und FPÖ gewählt.

In der Schweiz sind der rechte und der linke Rand mit den zwei grössten Parteien SVP und SP stabil abgedeckt, beide sind in die Regierung eingebunden. Glauben Sie, dass die Sparmassnahmen von Finanzministerin Karin Keller-Sutter zur Gründung rechtsextremer und kommunistischer Parteien führt?

Nein, das glaube ich nicht. Erstens entspricht das Sparpaket im internationalen Vergleich nicht einer harten Austeritätspolitik, und zweitens verfügen wir über das wichtige Ventil der direkten Demokratie. Es ist zwar möglich, dass die Polarisierung in der Schweiz weiter zunimmt. Aber die Unzufriedenheit wird wohl weniger in Protesten oder Streiks münden als vielmehr in einer Korrektur durch eine Volksabstimmung. Trotzdem: Denken Sie an das Beispiel von Markus Ritter. Der Bauernpräsident stand letzte Woche auf dem Bundesplatz und drohte damit, das Sparpaket mit Demos zu bekämpfen.

Dabei sind die vorgeschlagenen Kürzungen in der Landwirtschaft von 490 Millionen Franken sehr moderat, wenn man bedenkt, dass die Bauern jährlich 3,9 Milliarden Franken erhalten.

Ritter erhofft sich, dass die Politik davon absieht. Sein Schlusssatz auf dem Bundesplatz war: «Wir hoffen, dass es ohne Traktoren möglich ist.» Er droht also Proteste an. Ich gehe nicht davon aus, dass es so weit kommen wird. Aber zumindest die Diskussionen sind aufgeheizter als üblich. Dennoch bleibt meine Hoffnung, dass unser politisches System extreme Positionen austariert.

Die geopolitische Lage ist besorgniserregend, es gibt Krieg an diversen Fronten. Für die bürgerliche Mehrheit ist klar: Der Schutz der Bevölkerung durch eine verteidigungsfähige Armee hat Priorität.

Für die rechte Seite erfordert der Ukraine-Krieg kurzfristig mehr Mittel für die Armee. Die linke Seite will angesichts der Klimawende und der Krise des Gesundheitswesens möglichst rasch staatliche Investitionen in diesen Bereichen. Liberale Kräfte wollen schliesslich in guten Zeiten sparen, um in Notlagen genügend Spielraum zu haben. Am Ende entscheiden die politischen Mehrheiten.

Grosses Sparpotenzial sieht die bürgerliche Mehrheit bei der internationalen Zusammenarbeit. Die Finanzkommission des Nationalrats will diese um eine Milliarde Franken kürzen. Was wären die Folgen?

Vor Ort erzielen selbst «kleine» Veränderungen wie Lebensmittelhilfe oder der Bau von Hängebrücken einen messbaren Effekt, der das Leben der Menschen nachweislich verbessert. Dementsprechend negativ sind die Auswirkungen von Kürzungen in der internationalen Zusammenarbeit für die Betroffenen. Interessanterweise haben hier die Expertengruppe und der Bundesrat vergleichsweise wenig Kürzungspotenzial gesehen. Es ist die Finanzkommission des Nationalrats, die hier mehr sparen will.

Gefühlt Sekunden nachdem der Bundesrat sein Sparpaket präsentiert hatte, brüllten die Sozialdemokraten Zeter und Mordio und sprachen von einem Sozialabbau. Gehen Sie mit ihnen einig?

Sparpakete sind für sozialdemokratische Parteien insbesondere dann elektoral riskant, wenn Ausgaben gekürzt werden. Sozialdemokratische Parteien verlieren besonders stark, wenn sie ausgabenbasierte Konsolidierungen mittragen, die Investitionsausgaben oder Löhne im öffentlichen Sektor kürzen, weil dort ihre Wählerklientel beschäftigt ist. Hingegen führen Steuererhöhungen nicht zu elektoralen Verlusten der Linken. Aber ich möchte mich von keiner politischen Seite instrumentalisieren lassen. Wo gespart wird, ist eine Frage, die man politisch aushandeln soll.

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