Es ist 1944, in Europa tobt der Zweite Weltkrieg. Doch die Schweiz hat andere Probleme: Die Bahnhofsuhren laufen nicht synchron. Es entsteht eine Ikone. Warum hat die Uhr bis heute überlebt?
Der rote Zeiger mit Kreis an der Spitze erreicht die Zwölf, und für einen kurzen Moment bewegt sich – nichts. Alle Zeiger bleiben auf der Stelle. Die Zeit scheint stillzustehen. Kurze Irritation, der Blick bleibt haften. Dann springt der Minutenzeiger zum nächsten Strich, wackelt kurz, der Sekundenzeiger beginnt eine neue Runde zu drehen.
Es kommt zu diesem irritierenden Moment, weil der Sekundenzeiger etwas zu schnell dreht: Für die 60 Sekunden einer Minute benötigt er nur 58,5. Das Innehalten zur vollen Minute ist die Besonderheit der Schweizer Bahnhofsuhr.
Sonst ist sie der Archetyp einer Uhr, gewissermassen eine Ur-Uhr: keine Ziffern, schwarze Striche, zwei schwarze balkenförmige Stunden- und Minutenzeiger auf weissem Grund. Dank der Innenbeleuchtung ist sie auch im Dunkeln gut sichtbar. Mehr hat sie nicht zu bieten, sie ist so simpel gehalten, wie es nur geht. Schlicht, rein funktional – eigentlich langweilig.
Der Erfinder suchte Ruhe
Beständig misst die Uhr mit dem dicken Gehäuse die Zeit. Sie wird vom Unternehmen Moser-Bär in Sumiswald im Emmental hergestellt, das auch das legendäre Posthorn fürs Postauto baut.
Mehr als 5000-mal hängt die Uhr in der Schweiz, vielfach auch im Ausland, selbst Apple hat sie 2012 kopiert. Längst gibt es sie sogar als Armbanduhr, für die Mondaine von den SBB seit 1986 die exklusive Lizenz hat.
Während alles um sie herum anders aussieht als vor 80 Jahren, ist sie unverändert. Trotz Digitalisierung und Handys. Obwohl es sie nicht mehr braucht. Und im Unterschied zu einer Rolex ist sie kein Statussymbol. Warum also konnte sich ausgerechnet eine langweilige Bahnhofsuhr so gut halten?
Sie wird 1944 vom Elektroingenieur Hans Hilfiker (1901–1993) erfunden. Während um die Schweiz herum Zweiter Weltkrieg ist, sorgt sich Hilfiker um die Hektik an Schweizer Bahnhöfen, will Ruhe hineinbringen.
Denn das Problem ist: Die Uhren an den Bahnhöfen laufen nicht synchron. Sie ticken alle selbständig vor sich hin, mit eigenem Antrieb, ein zentrales Steuerungssystem gibt es noch nicht. Darum die leicht unterschiedliche Zeitmessung.
Hilfiker unterwirft die Uhr komplett der Funktionalität. Ganz nach dem damals geltenden Design-Leitsatz «Form Follows Function». Sein oberstes Ziel ist, für Bahnhöfe perfekt geeignete, synchron laufende Uhren zu schaffen. Aber keinesfalls trendiges modernes Industriedesign, als das die Uhr heute gilt. Seine Idee: In jedem Bahnhof soll eine Hauptuhr die minütlichen elektrischen Bewegungsimpulse an die anderen Bahnhofsuhren, die sogenannten Nebenuhren, weitergeben.
Als Sekundenzeiger entwirft Hilfiker die gut sichtbare «Sekundenkelle». Sie erinnert mit ihrer Form an die rote Signalkelle, die der Bahnhofvorstand früher schwenkte. Um das Uhrwerk nicht zu schnell abzunutzen, erhält der Zeiger statt 60 Impulse pro Minute nur einen und streicht darum kontinuierlich über das Zifferblatt, anstatt zu ticken.
Allerdings können die streifenden Sekundenzeiger damals aus technischen Gründen nicht perfekt synchronisiert werden. Hilfiker wendet einen Trick an: Er beschleunigt sie ein bisschen. Darum bleibt der Zeiger, bei 12 Uhr angekommen, stehen, bis der Minutenimpuls, der den grossen Zeiger vorwärtswirft, gleichzeitig die nächste Umdrehung für den Sekundenzeiger freigibt.
Design-Richtung Swiss Style
Der Minutensprung der Bahnhofsuhr erinnert an eine Feststellung von Albert Einstein: «Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.» Die kurze Pause hebt für einen Moment die Gewissheit auf, dass die Zeit weiterzieht. Und erinnert daran, dass sie relativ ist. Dass erst die Glockenschläge der Kirchturmuhren im Mittelalter angefangen haben, das Leben zu strukturieren. «Was früher Kirchturmuhren waren, leistet heute die Bahnhofsuhr», schreibt Hilfiker 1955 in einer Reisezeitschrift.
Eine weltbekannte Uhr entsteht aus der Lösung eines technischen Problems. Und weil die SBB sie für gut befinden, hängt sie bald überall.
Doch eigentlich ist ihr auffälligstes Merkmal, der kurz stillstehende Sekundenzeiger, ihr Problem. Er bringe «Ruhe in die letzte Minute», sagt Hilfiker. Doch strenggenommen ist die Uhr, die bis ins Heute konserviert wird, auf Sekundenebene ungenau. Aber auch das kann ihren Erfolg nicht aufhalten.
Denn ihre Stärken überwiegen. 1944 führen die damaligen Gegebenheiten zu Hilfikers einfachem, ruhigem Design. Die Menschen in der Schweiz sehnen sich danach, dass alle Uhren gleich ticken, nach Klarheit.
Diese Sehnsucht spiegelt sich im gestalterischen Schaffen aus dieser Zeit wider. Die Design- und Grafik-Strömung heisst Swiss Style. Sie ist vom russischen Konstruktivismus, vom niederländischen De Stijl und vom Bauhaus inspiriert.
Swiss Style steht für Reduktion, Schlichtheit, Funktionalität. Schnörkel und schmückende Elemente sind verpönt. Zum gleichen Stil gehören weitere bekannte Ikonen. Der Landi-Stuhl von Hans Coray, der Sparschäler Rex von Alfred Neweczerzal, der Strandstuhl von Willy Guhl oder die Schrift Helvetica von Max Miedinger und Edouard Hoffmann.
Gerade bei Letztgenannter zeigt sich exemplarisch, wie Gestalter immer noch an ihr festhalten, sie werden sie gewissermassen nicht mehr los. Denn sie ist nüchtern, auf das Wesentliche reduziert. Wie die Schweizer Bahnhofsuhr.
Reduktion aufs Notwendige
Wie die Helvetica bis heute weltweit verwendet wird, wurde das einfache Layout der Bahnhofsuhr – abgesehen vom Sekundenzeiger – vielfach kopiert. Es ist simpel, puristisch, universell.
Weil Schweizer Unternehmen wie die SBB den Swiss Style adaptieren, steht er bald für Swissness. Wer die Bahnhofsuhr sieht, weiss, dass er in der Schweiz ist. Das Design ist zwar funktional und klar, aber auch zurückhaltend. Schweizerisch eben.
Die Bahnhofsuhr ist heute nicht aus der Schweiz wegzudenken. Und wie zur Zeit ihrer Erfindung sehnen sich die Menschen heute, in bewegten, unsicheren Zeiten, nach Ruhe, nach Reduktion aufs Notwendige.
Und so bleibt der Blick immer noch kurz haften, wenn der rote Zeiger stehenbleibt.