Eine Ausserrhoder Tradition aus dem 17. Jahrhundert kommt nach Zürich. Unterwegs mit zwei «Schuppel».

Das Mehrzweckgebäude von Waldstatt liegt unter einem wolkigen, finsteren Himmel. Es ist halb acht Uhr am Morgen. Auf dem Vorplatz versammelt sich langsam eine Gruppe von Männern in schweren Militärschuhen, groben Wollhosen, Sennenhemden, Halstüchern und Zipfelmützen. Es ist der Montag des Zürcher Sechseläutens – und der grosse Tag der Waldstätter Silvesterchläuse.

Einer dieser Männer ist Markus Schoch. Er hilft den eintreffenden anderen Chläusen, Masken und Kostüme, Schellen und Rollen sowie weiteres Material in den Anhänger eines Reisecars zu verladen. Dabei lässt er allergrösste Vorsicht walten.

Normalerweise verliessen diese kostbaren Larven und die handgemachten Gewänder ihre Heimat nicht, erklärt Schoch. Sie würden nur hier getragen, vor einheimischem Publikum. Ausnahmen mache man vielleicht für die Hochzeit oder den runden Geburtstag eines anderen Chlauses. Sonst nie.

Doch heute gelten etwas andere Regeln: Appenzell Ausserrhoden ist Gastkanton beim Zürcher Sechseläuten, Markus Schoch und sein Blattenschuppel wurden eingeladen, dieses besondere Ausserrhoder Brauchtum auf dem Lindenhof und beim Umzug durch die Innenstadt vorzuführen – und für «Appenzeller Stimmung» zu sorgen.

Den Reisecar teilen sie sich mit dem Waldstätterschuppel, einer zweiten Gruppe von Chläusen. Sie laufen ebenfalls beim Umzug mit, treten aber erst am Abend auf dem Lindenhof auf.

Zwei Jahre Handarbeit für eine «Haube»

Im Appenzellerland wird zweimal Silvester gefeiert: einmal am 31. Dezember und einmal am letzten Tag des julianischen Kalenderjahrs, dem 13. Januar. Seit dem 17. Jahrhundert ist es in Ausserrhoden Brauch, dass die Chläuse im Januar von Hof zu Hof ziehen, um den Bauern ihre Neujahrsgrüsse in Form eines «Zäuerlis» zu überbringen. Das ist die Appenzeller Art des Naturjodels.

Die Chläuse sind in Gruppen organisiert, sogenannten «Schuppel». Es gibt Schuppel, die als «schöne» Figuren auftreten, so wie Markus Schoch und sein Blattenschuppel. Sie sind in prächtige, samtene Trachten gehüllt und tragen grosse, reich verzierte Kopfbedeckungen.

Diese «Hauben» zeigen geschnitzte und gemalte Szenen aus dem traditionellen Ausserrhoder Bauernleben. Für den Transport sind sie in massgefertigten Kisten aus Holz verpackt, damit ihnen auch wirklich nichts passiert: Ihre Herstellung nimmt bis zu zwei Jahre in Anspruch. Ihr emotionaler Wert übersteigt das, was sich in Franken und Rappen angeben lässt, bei weitem.

Selbst die Kisten sind handgemacht. Viele der Chläuse seien im Privatleben passenderweise Handwerksleute – wie es bei den Zünften ursprünglich ebenfalls üblich war. Doch bei den Silvesterchläusen gebe in dieser Hinsicht keine Regeln, sagt Schoch. «Es sind aus allen Richtungen Leute dabei.»

Die bösen Geister des Vorjahres vertreiben

Der Waldstätterschuppel nimmt im «wüeschte» Gewand am Sechseläutenumzug teil. Solche «wüeschti» oder «schö-wüeschti» Figuren tragen ein Gewand aus Tannenästen, genannt «Chroscht», und furchteinflössende Masken. Die «Wüeschte» ähneln Naturgeistern, die die Dämonen des Vorjahres mit Peitschen und Schellen verscheuchen.

Um für das neue Jahr um die Gunst der guten Geister zu werben, stimmen die Chläuser ein Zäuerli an.

Wie man ein «Chlaus» wird? Markus Schoch lacht. «Man ist einfach einer.» Dann fügt er an: Die meisten würden in den Brauch hineingeboren. Beim Waldstätterschuppel zum Beispiel sei ein Vater mit seinen drei Söhnen dabei. Brauchtum ist in der Regel Familiensache.

Aber im Prinzip könne jeder bei einem Schuppel mitmachen. Ein formal geregeltes Aufnahmeverfahren kennen die «Silvesterchläuse» genauso wenig wie einen Chef oder Obmann. Allerdings gebe es einen Chlaus, der schaue, dass die Gruppe organisiert bleibe, und ein monatliches Treffen des Schuppel einberufe. Der sei es auch, der die Bauern beim Silvesterchlausen im Appenzellerland begrüsse.

Statt zu Fuss von Hof zu Hof geht es an diesem Montag allerdings im Bus nach Zürich. Nach einem kurzen Zäuerli vor dem Einsteigen begrüsst der Chauffeur des Reisecars die Männer mit ein paar Worten. Dann lässt er den Motor an. Es ist Viertel nach acht.

80 Kilometer Distanz – doch das ist bloss Geografie

Waldstatt liegt keine 5 Kilometer von Herisau entfernt, und von dort sind es nur 80 Kilometer bis nach Zürich – geografisch gesehen. Aber kulturell liegt weit mehr Distanz zwischen der Gemeinde Waldstatt und der Stadt Zürich.

Was, wenn die kulturellen Unterschiede zu gross sind? Was, wenn die Zürcher mit dem Ausserrhoder Brauchtum nichts anfangen können? Die Männer vom Waldstätter Schuppel freuen sich auf den Tag, der nun angebrochen ist. Es sei ihnen eine Ehre, nach Zürich eingeladen zu sein, sagen viele ihnen. Aber sie haben auch Respekt vor dem Grossanlass.

Die meisten der Chläuse kennen das Sechseläuten nur aus dem Fernsehen. Selber an der Bahnhofstrasse gestanden haben sie noch nie.

«Ein bisschen Mut kostet uns das schon», sagte Markus Schoch eine Woche vor dem Sechseläuten. Als wollten sie der Sache ihre Bedrohlichkeit nehmen, betonen während der Busfahrt nach Zürich immer wieder Chläuse: «Wir sind beim Fest ja bloss zu Gast. Wir stehen nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.»

Wie war das nochmal mit der Landteilung?

In der Stadt Zürich dauert es allerdings nicht lang, bis fremde Blicke sich für die Ausserrhoder zu interessieren beginnen. Wo sie hinkommen, ziehen sie alle Blicke auf sich – selbst dann, als sie nur einen raschen Blick auf das beinahe leere Festzelt auf dem Lindenhof werfen und noch nicht einmal ihre Gewänder tragen.

Die Chläuse verschaffen sich bloss einen Überblick über die Lage: Um zwölf wird der Blattenschuppel hier einlaufen und ein Zäuerli zum Besten geben. Danach geht es zurück zum Bus, um zu warten, bis es – endlich – so weit ist.

Während der Wartezeit trinken die Chläuse ein Bier, rauchen eine Zigarette und scherzen über die anderen Appenzeller – die aus dem Kanton Innerrhoden. Dann wird der Ton etwas ernster: Wie war das schon wieder mit der Landteilung? Wann und weshalb sind die beiden Halbkantone entstanden?

Noch bevor die Geschichte komplett rekonstruiert ist, ist der Moment zum Aufbrechen gekommen. Die Männer vom Blattenschuppel lassen sich ihre Hauben aufsetzen, testen ihre Schellen und Rollen. Dann wird noch einmal gesungen. Es ist ein Einstimmen auf den vorläufigen Höhepunkt des heutigen Tages. Es ist zehn vor zwölf.

Gute Geister für Zürich

Das Festzelt auf dem Lindenhof ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Menge tobt, als die «schönen» Appenzeller unter lautem Schellen und Tönen dahergerannt und -gehüpft kommen. Hier auf dem Lindenhof hat das Sechseläuten den Charakter eines richtigen Volksfest.

Ein lautes «Pssst!» geht durch die Bankreihen. Ein paar Eingeweihte scheinen zu wissen, was jetzt kommt.

Als es ganz, ganz still ist, stimmen die Silvesterchläuse aus Waldstatt ein Zäuerli an. Und locken die guten Geister nach Zürich, dass sie ein gutes Sechseläuten ermöglichen.

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