Daniela Seel schafft ein neues Bild der biblischen Eva – und eine bewegende Reflexion über Leben und Sterben.
Die Paradiesgeschichte endete bekanntlich, als Eva vom Baum der Erkenntnis ass und auch Adam abbeissen liess. Gottes Strafe für den Ungehorsam war hart. Die Frau soll unter Schmerzen gebären. Und der Mensch muss sterben. Daniela Seel, die mit ihrem Berliner Kookbooks-Verlag seit über 20 Jahren unermüdlich zeitgenössische Poesie verlegt, beginnt nun ihren Gedichtband «nach eden» mit einer ganz eigenen Lesart des biblischen Sündenfalls.
«Eva ernst nehmen», fordert sie in ihrem Einstiegsgedicht: «Eva entscheidet sich. Für Erkenntnis und Lust. Für Mut. / Die Konsequenzen nimmt sie in Kauf. Nehme ich Eva ernst, / ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern / Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit.»
Seels Eva ist selbstbewusst und entscheidungsfreudig. Sie will Erkenntnis und nimmt die Sterblichkeit bewusst in Kauf. Der Auszug aus diesem Garten Eden war ohnehin richtig. Denn ein Garten ist immer auch ein Ort von erzwungener Ordnung, von willkürlicher Einteilung in Nützling und Schädling. Sogar eine ausbeuterische Gesellschaftsordnung ist im eingehegten Garten schon angelegt: «Vom Garten ist es nicht weit zur Plantage mit ihrer Sklav:innenarbeit».
Eva hat die Dichterin also ganz auf ihrer Seite. «Von Eva her denken zieht daraus aus, setzt dem eine Frist.» Mit diesem Bild der Mutter allen Lebens, die zugleich die Mutter allen Sterbens ist, führt Seel in ihren Band ein. Die postedenische Welt ist nun ein Ort zum Verzweifeln. Immer herrschen Krieg, Ausbeutung, Grausamkeit. Und der abendländische Kulturkreis, im besonderen das Mutterland der deutschen Autorin, hat einen beträchtlichen Anteil an der Schuld daran.
Die historisch-politischen Analysen, die Seels literarisch vielgestaltiges und ebenso herausforderndes wie einnehmendes Langgedicht in sich birgt, sind scharf, doch auch differenziert. So war etwa Alexander von Humboldt, der Forschungsreisende, gemäss ihrer Darstellung eben auch ein Plünderer und Leichenfledderer, als er in Südamerika Skelette vermass und einpackte. In sein Erkenntnisinteresse war ein gerüttelt Mass eurozentrischer Überheblichkeit gemischt.
Doch das Thema, welches in Seels Langgedicht das Erbe der Lebens- und Sterbensmutter Eva am eindringlichsten aufgreift, ist die intime Geschichte vom Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft. Es ist dabei kaum anders denkbar, als dass das Textsubjekt mit der Autorin kurzzuschliessen ist. Ein Protokoll des Aborts bewegt mit drastischer Verknappung. «Nach den Palpationen», beginnt der Abschnitt, um «nach den Abstrichen», «nach der Gabe von Cytotec», «nach der Abrasio» und schliesslich «nach der Entsorgung» mit einem Gedankenstrich im Schweigen zu enden.
Doch Seel überwindet den Moment der Sprachlosigkeit und macht, getreu ihrem Bild der mutigen, entschlossenen Eva auch vor Fragen nach der Ethik der Frühdiagnostik nicht halt. Und sie stellt nicht bloss einer christlichen geprägten westlichen Gesellschaft, sondern auch sich persönlich die Frage nach dem Verhältnis zur eigene «Gabe» zum Brutalität. «Begabt zu Grausamkeit, ohne grausam zu sein. / Begabt zu vernichten, sich gegen Vernichtung entscheiden».
Eva neu zu denken, und von dieser Eva her zu denken – zu wissen wagen und das Leben anzunehmen, zu dem das Sterben gehört, aber nicht notwendig die Grausamkeit: Mit diesem Ansatz entfaltet die Dichterin eine literarische Reflexion, die weit ausgreift und tief bewegt.
Daniela Seel: nach eden. Gedicht. Suhrkamp, Berlin 2024. 96 Seiten, Fr. 31.50