Donnerstag, September 19

In der Schweiz sind Kinder durchschnittlich viereinhalb Jahre alt, wenn sie eine Diagnose im sogenannten Autismus-Spektrum erhalten. Neue Forschung zeigt: Das ist meistens zu spät.

Theo ist vierzehn Monate alt. Er sitzt still auf seiner Decke und spielt seit einer halben Stunde zufrieden mit demselben weichen Knisterbüchlein. Als die Mutter das Zimmer betritt und seinen Namen ruft, dreht er sich nicht um.

Sie beugt sich zu Theo hinunter und lächelt ihn an. Theo lächelt nicht zurück. Er schaut an ihr vorbei und greift nach ihrem Ohrschmuck, dessen Glasperle das Licht hinter ihr auffängt. Seinen Schoppen nimmt Theo gerne allein auf dem Sofa und schaut dabei an die getäferte Decke.

Eltern spüren meist früh, dass ihr Baby anders ist. Und häufig liegen sie richtig. Das zeigte jüngst eine australische Studie. Bekommt ein Kind im Alter von drei Jahren die Diagnose Autismus, so haben die Eltern schon im ersten Lebensjahr Auffälliges an ihrem Sprössling beobachtet: mangelnder Augenkontakt, ungewöhnliche Passivität oder auffälliges Fixieren bestimmter Objekte.

Klarheit darüber, wie ihr Kind veranlagt ist, haben Eltern aber oft erst Jahre später. In der Schweiz sind Kinder durchschnittlich viereinhalb Jahre alt, wenn sie eine Diagnose im sogenannten Autismus-Spektrum erhalten. In Deutschland sind sie sogar noch zwei Jahre älter. Dabei würde eine frühere Diagnose die weitere Entwicklung deutlich verbessern.

Einseitiger Fokus auf klar beobachtbares Verhalten

Ein Grund für die späte Diagnose liegt in den Anfängen der Autismus-Forschung. Seit den 1960er Jahren wird Autismus hauptsächlich über typische Verhaltensweisen erkannt und diagnostiziert. Etwa, wenn das vierjährige Kind beim Spiel nicht in verschiedene Rollen schlüpft oder eben Augenkontakt vermeidet.

Diese Art, zu diagnostizieren, war zwar bereits in den 1960er Jahren umstritten, da sie nicht berücksichtigt, wie das Kind sich selbst und seine Umgebung erlebt. Trotzdem prägte der einseitige Fokus auf äussere Merkmale für Jahrzehnte, wie Autismus verstanden wird – mit ungünstigen Folgen für autistische Menschen.

Therapeuten versuchten, vor allem die auffälligen Verhaltensweisen zu behandeln. Kinder sollten lernen, nicht mehr mit den Händen vor dem Gesicht zu flattern, ein Verhalten, das als Stimming bekannt ist. Oder es wurde ihnen antrainiert, Erwachsenen in die Augen zu schauen. So wirkten sie weniger «autistisch».

Heute ist bekannt, dass sich Menschen im Autismus-Spektrum mit Stimming selbst beruhigen oder der Blickkontakt für sie zu intensiv ist. Ihr Verhalten zu verändern, hilft ihnen nicht.

Wahrnehmung ist schon im Säuglingsalter anders

Unterdrücken Autisten die für sie typischen Verhaltensweisen, so geht es ihnen nicht besser. Im Gegenteil, es kann ihrer psychischen Gesundheit sogar schaden. Ihr Verhalten hat nämlich einen guten Grund.

«Wir sollten autistische Merkmale nicht als etwas Festgelegtes oder rein Verhaltensbezogenes sehen, sondern als ein komplexes, sich anpassendes System», schreibt der Kinder- und Jugendpsychiater Jonathan Green im Fachjournal «Child and Adolescent Mental Health». Green ist Professor an der Universität Manchester und erforscht Autismus-Spektrum-Störungen.

Tatsächlich dachten Wissenschafter noch in den 1990er Jahren, Autismus sei genetisch festgelegt und der Verlauf der kindlichen Entwicklung sei kaum veränderbar. Heute weist vieles darauf hin, dass sich Autismus in Wechselwirkung zwischen einer genetischen Veranlagung und Umwelterfahrungen herausbildet. Was ein Kind erlebt, das beeinflusst die Ausprägung seines Autismus.

Erschwerte Interaktion prägt die Entwicklung

Gehirne autistischer Kinder entwickeln sich anders. Die sogenannt neurodiverse Veranlagung beeinflusst die Verarbeitung von Umweltreizen schon früh. Soziale Informationen scheinen sie weniger zu interessieren, dafür konzentrieren sie sich auf die Wahrnehmung von Texturen, Geräuschen und Formen von Objekten.

Auch Theo, das eingangs erwähnte Kleinkind, verliert sich im Knistern des Büchleins oder im Täfermuster. Die Stimme seiner Mutter nimmt er vor dem Hintergrund anderer Geräusche nicht wahr. Auch deshalb reagiert er anders als andere Babys.

Die Kinderpsychiaterin Luise Poustka, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg, spricht von einem «autistischen Prodrom». Das ist eine Sammlung von Symptomen, die sich zeigen, bevor die diagnostischen Verhaltensmerkmale auftreten. Auf deren Basis möchte die Amerikanische Gesellschaft für Pädiatrie (AAP) bereits im Alter zwischen 18 und 24 Monaten ein Screening für Autismus einführen.

Je früher Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung positive Erfahrungen in der Interaktion mit ihren Eltern und Geschwistern machen, desto besser, ist der britische Kinderpsychiater Green überzeugt. Er plädiert dafür, bereits bei den ersten Anzeichen im Kleinkindalter mit den Eltern zu arbeiten.

Das Verhalten des Kindes verstehen lernen

Verschiedene Studien bestätigen: Je früher Autismus erkannt und Hilfen eingeführt werden, desto gesünder entwickeln sich Kinder und desto besser können sie sich später sozial integrieren. Über den Ansatz und die Intensität der Intervention besteht jedoch noch keine Einigkeit.

Green und sein Team entwickelten ein videogestütztes Interaktionstraining. Die Eltern werden gefilmt, während sie sich mit dem Kind beschäftigen. Dann betrachtet der Therapeut oder die Therapeutin gemeinsam mit den Eltern die Videoclips, um positive Momente in der Interaktion mit dem Kind zu erkennen.

Die Eltern beobachten etwa Folgendes: Das Kind schaut zu ihnen auf. Aber erst, nachdem sie sich bereits wieder abgewandt haben. Autistische Kinder reagieren oft mit Verzögerung auf verbale Signale. So lernen die Eltern, sich auf das Tempo des Kindes einzustellen.

Zudem lernen die Eltern, wie sie sensorische Reize wie grelles Licht oder laute Geräusche minimieren können und das Kind dadurch weniger Stress ausgesetzt ist.

Ziel der Intervention ist es, ein Umfeld zu schaffen, das sensibel auf die neurodiverse Kommunikation des Kindes reagiert. Deswegen findet die Therapie auch nicht in einer Praxis, sondern zu Hause beim Kind statt.

Ein sensibles Umfeld hilft den Kindern

Dass die kurze Intervention mit den Eltern wirkt, zeigten die britischen Forscher mithilfe einer Studie. Eltern von Kindern im Alter von 9 bis 14 Monaten nahmen an der Studie teil. Die Therapeuten führten insgesamt zwölf Therapiesitzungen mit den Eltern durch.

Zwei Jahre nach der Intervention war die Interaktion zwischen Kind und Eltern positiver und die Symptome des Kindes merklich geringer als bei Familien, die keine therapeutische Hilfe erhalten hatten.

Die Studienergebnisse sprechen für die These, dass sich autistisches Verhalten sozusagen als Bewältigungsstrategie oder Reaktion auf Stressfaktoren in der Umgebung entwickelt.

Könnten also die gängigen Diagnosekriterien eine frühzeitige Hilfestellung verhindern – weil zuerst abgewartet wird, bis sich Verhaltensweisen bereits verhärtet haben?

Die deutsche Kinderpsychiaterin Poustka plädiert dafür, beim Diagnostizieren manchmal etwas mutiger zu sein. Fachpersonen sähen zwar Kinder mit starken frühen Symptomen, trotzdem seien sie zurückhaltend mit der Diagnose, weil die Verhaltenskriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung noch nicht erfüllt seien. Ohne Diagnose wird jedoch keine Intervention finanziert, und es geht wertvolle Zeit verloren.

Fachstellen, die sich auf frühe Hilfe spezialisieren, gibt es. So bieten die Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel seit 2010 ein intensives Frühinterventionsprogramm für Kleinkinder mit autistischen Störungen an. Die psychotherapeutische Leiterin, Esther Kievit, betont, sie hätten lange Wartezeiten und es brauche dringend mehr Diagnose- und Interventionsstellen.

Der vierzehn Monate alte Theo wäre ein Kind, das von einer frühen Hilfe profitieren könnte. Seine Mutter könnte mithilfe der Therapeuten verstehen, warum Theo sie nicht anstrahlt, wenn sie den Raum betritt. Und die Eltern würden lernen, seine Umgebung so zu gestalten, dass er mit seiner Veranlagung bestmöglich gedeihen kann.

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