Sonntag, Oktober 6

Wer am Puls der Zeit sein möchte, sollte die kleineren Musikfestspiele in der Schweiz besuchen: Das Davos-Festival stellt sich der KI-Technik und die Appenzeller Bach-Tage vereinen Alt und Neu ganz harmonisch.

Bach geht immer. Seine Musik lässt sich in alle möglichen Kontexte einbetten und mit aktuellen Fragestellungen konfrontieren, vor allem aber gibt es vermutlich kaum ein Thema, zu dem sich in Bachs Schaffen selbst nicht irgendeine Antwort findet. Das offenbarte sich in diesem Sommer wieder einmal am Davos-Festival in Graubünden und bei den Appenzeller Bach-Tagen. Zu Themen wie Utopie und Parodie und selbst zu zeitgenössischen Debatten rund um «kulturelle Aneignung» oder «künstliche Intelligenz» kann Bach etwas beitragen, und sei es eine klingende Assoziation.

Gerade weil Bachs Musik gemeinhin als Inbegriff für kompositorische Vollkommenheit und vollendete Schönheit gilt, kann sie nicht zuletzt eine Art klingende Gegenwelt zu den Abgründen der Zeit entwerfen. Sie fügte sich denn auch sinnstiftend in das diesjährige Motto «Utopia» in Davos ein. Natürlich berührten die Davoser Programme die grossen politischen Utopien und Dystopien: von Platons «Politeia» über «Utopia» von Thomas Morus und den «Sonnenstaat» von Tommaso Campanella bis zu Jewgeni Samjatins «Wir», Aldous Huxleys «Schöner neuer Welt» und Orwells «1984». Besonders spannend wirkten daneben jedoch auch die vielen privaten Träume, Visionen und Luftschlösser, die Menschen entwickelt haben, die aber heute in der Regel in Vergessenheit geraten sind.

Spiel um Sein und Schein

Da ist etwa die französische Komponistin Rita Strohl: Mit ihrem Ehemann René, einem flammenden Wagner-Verehrer, baute sie bei Paris eine Mühle zu einem Theater um, das ein «Klein-Bayreuth» werden sollte. Wie so viele Utopien platzte auch diese Vision, doch Strohls gleichermassen von Wagner wie vom Impressionismus inspiriertes Schaffen lohnt noch immer die Entdeckung.

Ein Refugium im Geiste Bachs hat sich auch der polnisch-schweizerische Komponist Constantin Regamey erschaffen. Als der Zweite Weltkrieg tobte, schuf er 1944 mit seinem Quintett für Klarinette, Fagott und Klaviertrio ein persönliches Bekenntnis – vergleichbar mit dem vier Jahre älteren «Quatuor pour la fin du temps» von Olivier Messiaen. Im Kontext von «Utopia» erschien es überdies folgerichtig, dass in Davos mithilfe künstlicher Intelligenz auch ein «KI-Topia» geschaffen wurde.

Statt den naheliegenden Weg zu gehen und mit KI eine Musik im Stil von Bach oder von anderen Grössen zu schaffen, stellten sich die Mitglieder des Collide-Quartetts selber der KI-Technik: Auf dem Podium waren sie jeweils isoliert für sich und doch technisch miteinander verbunden. Aber welche Stimme ist echt, welche von der KI generiert? Mit Performance, Live-Videos und immersiver, virtueller Realität wurde dieses Projekt ein Spiel um Sein und Schein, mit Musik vom 16. Jahrhundert bis hin zu Uraufführungen von Moritz Eggert.

Wird das alles unsere Zukunft sein, eine eigene schöne neue Welt? Ähnlich gegenwartsbezogen ging es in «Bachs Werkstatt» in Appenzell zu. Zum zehnten Jubiläum der dortigen Bach-Tage wagte man den Blick in die Komponierstube des Meisters, um Bearbeitungen Bachs von Musik aus eigener und fremder Feder zu durchleuchten oder das damals gängige Parodie-Verfahren der Umwidmung fremder und eigener Kompositionen nachzuvollziehen. Bei diesem Verfahren wurden in der Regel präexistente Musikstücke umgewandelt, um für sie mit geändertem Inhalt neue Nutzungsmöglichkeiten zu erschliessen.

Für die Bach-Tage machten der Festivalleiter Rudolf Lutz und der Dramaturg Anselm Hartinger aus der weltlichen Kantate «Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten» BWV 207 von 1726 eine Friedenskantate; damit nahmen sie auch – ganz bewusst und im Sinne Bachs – auf die aktuelle Weltlage Bezug. Gleichzeitig wurde in der Appenzeller Werkstatt anschaulich, wie Bach sich kultureller Vorarbeiten bediente und sie in etwas Eigenes, Neues überführte. Was zu seiner Zeit üblich war, wird heute teilweise als «kulturelle Aneignung» kontrovers beurteilt und infrage gestellt.

Darüber diskutierte die Philosophin Barbara Bleisch mit der Autorin Mithu Sanyal und dem Publizisten Markus Somm. Am Ende der phasenweise hitzigen Debatte wurde immerhin als Spielart der kulturellen Aneignung auch das Konzept der produktiven Anverwandlung erkennbar – allerdings leider ohne Brückenschlag zu Bach, obwohl er für diese Haltung exemplarisch steht. So ist es kein Geheimnis, dass sich Bach beispielsweise bei der Verwendung der Konzertform italienischer Vorbilder bediente, in der Suiten-Form auch französischer und englischer Vorbilder, um daraus schliesslich seinen ureigenen Kosmos zu machen.

Das Erreichte bewahren

In der Kulturgeschichte der Menschheit hat es tatsächlich nie einen Fortschritt ohne Austausch und Aneignung gegeben. Die Frage ist heute nur, wie sich dieser Prozess vollzogen hat: aus einer Warte der Überheblichkeit heraus oder aus einer des Respekts und der kompositorischen Neugier wie bei Bach.

Es ist eine Besonderheit der kleineren Festivals, dass sie ihre Mottos nicht einfach in den Raum stellen, sondern sie konzis in konkreten Konzertprojekten mit Leben erfüllen. Wer Festivals wie Davos oder Appenzell besucht, bekommt denn auch in der Regel keine Allerweltsprogramme mit bekannten Stars aufgetischt, vielmehr wird man hier immer wieder lehrreich überrascht, in Davos überdies mit Musik der Gegenwart und jungen Nachwuchstalenten. Im nächsten Jahr dreht sich dort alles um das Motto «Zeitlos», wobei auch das vierzigjährige Bestehen des Davos-Festivals gewürdigt werden soll.

Bei den Appenzeller Bach-Tagen wiederum geht es um die Zukunft: um die Frage nämlich, wie es nach der Aufführung und parallelen Gesamteinspielung des Vokalwerks von Bach, insbesondere des vollständigen Kantatenschaffens, weitergehen soll. Laut den Statuten der Bach-Stiftung St. Gallen, die auch die Appenzeller Bach-Tage realisiert, ist dies der Kernauftrag. Beim hauseigenen CD-Label sind zuletzt unter anderem die Missae Breves BWV 233 bis 236 erschienen, in sehr hörenswerten Aufnahmen von Chor und Orchester der Bach-Stiftung unter Rudolf Lutz.

Der Abschluss des Projekts wird nun in der Saison 2027/28 erwartet. Schon im Frühjahr 2025 sollen aber intern erste Vorschläge diskutiert werden, wie man das Erreichte bewahren und auch sinnvoll fortführen kann. Denn eines steht fest: Mit ihren Ensembles, den Bach-Tagen und dem hauseigenen CD-Label leistet die Bach-Stiftung einen herausragenden Beitrag zur Bach-Pflege, der weit über die Grenzen der Schweiz hinausstrahlt.

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