Schon lange gehört Bad Bunny zur Prominenz des Latin Pop. Auf seinem neuen Album aber verhilft er der Pop-Kultur insgesamt zu neuer Frische, indem er alte Traditionen in die Gegenwart übersetzt.
Bis vor kurzem konnte man Benito Martínez noch aus dem Weg gehen. Zwar sammelt der mittlerweile 30-jährige Puerto Ricaner unter seinem Künstlernamen Bad Bunny bereits seit einigen Jahren mit Zuverlässigkeit numerische Rekorde. Bereits 2020 war er der am häufigsten gestreamte Musiker auf Spotify. Und sein 2022 erschienenes viertes Album «Un Verano Sin Ti» wurde so oft wie kein zweites angeklickt: Gut 18 Milliarden Streams hat es derzeit auf dem Zähler.
Aber irgendwie neigte man stets dazu, seinen Erfolg als ein blosses Latin-Ding abzutun. Sein Reggaeton kam vielen spanisch vor. Bei öffentlichen Auftritten wirkte Bad Bunny ganz sympathisch, aber irgendwie auch blass. So blass, dass man ihn leicht unterschätzte. Bis heute tut er sich mitunter schwer mit dem Englischen, hält keine grossen Vorträge, reisst keine Sprüche. Der Typ, der nebenbei Wrestling betreibt und sich für Pokémon und Fitness begeistert, schien vielen uninteressant. Als Mitteleuropäer geriet man jedenfalls nicht zwingend ins elektromagnetische Feld seiner Musikalität und seines Charismas.
Lust zum Mitsingen
Mit dem Erscheinen seines siebten Albums «Debí Tirar Más Fotos» dürfte sich das ändern. Zu universell, zu clever, zu frisch ist sein neuster Streich geraten. Jetzt will man verstehen, was Bad Bunny singt und brummelt. Man will wissen, aus was sich sein Sound zusammensetzt. Und vor allem will man mitsingen.
Bad Bunny ist deshalb weltweit im Gespräch. Seine Songs haben den Generationensprung geschafft. Und das obwohl – oder gerade weil – sich auf der schillernden Platte kaum kommerzielles Kalkül ausmachen lässt. «Debí Tirar Más Fotos» ist vielmehr eine erstaunlich tiefgründige Auseinandersetzung mit Bad Bunnys Heimat Puerto Rico. So wird das Aussengebiet der USA, kaum grösser als Kärnten, plötzlich zum Nabel der Welt.
Schon auf früheren Alben hat der Puerto Ricaner mit diversen Musikstilen experimentiert. «Después de la Playa» aus dem Jahr 2022 zum Beispiel ist eine überdrehte, aber bemerkenswerte Melange aus Merengue und Mambo. Aber erst auf «Debí Tirar Más Fotos» folgt die Polystilistik einem Konzept, erst jetzt wird sie zum Programm unter einem Begriff: Puerto Rico. Bad Bunny zelebriert die Musik der Insel.
Das Album beginnt mit «Nuevayol». Und gleich mischt Bad Bunny Tradition und Moderne, indem er den Salsa-Klassiker «Un Verano en Nueva York» aus den siebziger Jahren in einen Bass-lastigen, urbanen Latin-Sound überführt. Auf Social Media kursieren bereits unzählige Videoaufnahmen junger Puerto Ricaner, auf welchen sie die Verzückung ihrer Eltern festgehalten haben. Hüftschwung garantiert.
Tradition für die Gegenwart
Aber selbst wenn man nicht in der Karibik aufgewachsen ist, fährt einem dieser Sound in die Glieder. Es ist die Musik eines gereiften Künstlers, der die Traditionen Puerto Ricos in die Gegenwart trägt. Aus Salsa, Jíbaro, Bolero, Plena und Perreo werden so Reggaeton und Trap.
Bad Bunnys Geschick zeigt sich auch in der Kombination von Sound und Text. In «Lo Que Le Pasó a Hawaii» erklingt ein klangliches Gemisch aus flackernd-düsteren Synthesizer-Sounds, folkloristischer Gitarrenbegleitung, einer Salsa-«Rätsche» (Guiro) und Bad Bunnys Gesang, der zwar nicht zum Belcanto taugt, aber ein stupendes Gefühl für Melodien zum Ausdruck bringt.
Das Klangbild passt zum Thema: Bad Bunny nämlich vergleicht seine Heimat mit Hawaii, dessen Beliebtheit als Reiseziel sich als zweischneidiges Schwert erweise. Die Attraktivität führe zu wirtschaftlichem Erfolg, aber womöglich auch zum Verlust der Identität. Da möchte man hoffen, dass der kritische Song nicht selbst die Touristenzahlen in die Höhe schnellen lässt.
Den Titel des Albums, «Debí Tirar Más Fotos» (Ich hätte mehr Fotos machen sollen), erklärt Bad Bunny als inneren Appell, mehr im Moment zu leben. Gleichzeitig handelt es sich auch um den Titel eines neuen Songs, der von einem wehmütigen, introspektiven Seufzen urplötzlich in eine Hymne kippt, bei der sich im Refrain ein kehliger Chor meldet, um gemeinsam mit dem Pop-Star verpassten Umarmungen und Küssen nachzutrauern.
Die schillernde Tonalität ist typisch für das ganze Album – eine Verschränkung von lokaler Folklore und urbaner Weltmusik, von persönlicher Introspektion und allgemeiner Aktualität, von Wehmut und Coolness. Das passt auch insofern gut in die Gegenwart, als die urbane Pop-Musik-Kultur eine Frischzellenkur durchaus brauchen kann. Denn der Hip-Hop-lastige Mainstream tönt oft austauschbar. Und während das Geplapper der Rapper vielen auf den Geist geht, trifft Bad Bunny den Nerv der Zeit.