Viele Opfer von Sexualdelikten schrecken vor einer Strafanzeige zurück. Die «Nein heisst Nein»-Regelung soll dies ändern. Fachleute bezweifeln jedoch, dass dies allein ausreicht.

Nur wenige Strafrechtsrevisionen haben so hohe Wellen geschlagen wie das neue Sexualstrafrecht. Eine Vergewaltigung, ein sexueller Übergriff oder eine sexuelle Nötigung liegen künftig bereits dann vor, wenn das Opfer dem Täter nur schon signalisiert, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist. Es genügt, dass sich der Täter über das Opfer hinwegsetzt – auch wenn sich dieses nicht wehrt. Am 1. Juli tritt dieses sogenannte «Nein heisst Nein»-Modell in Kraft.

Die Hoffnung ist gross, dass damit auch die Bereitschaft wächst, Sexualdelikte anzuzeigen. Bis anhin muss nämlich von einer äusserst hohen Dunkelziffer ausgegangen werden: Gemäss einer Befragung des Institutes GfS von 2019 melden nur zehn Prozent der Opfer von sexueller Gewalt den Vorfall der Polizei, und nur acht Prozent erstatten Strafanzeige. Viele befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird, sie für die Tat mitverantwortlich gemacht werden oder das Strafverfahren schlicht nicht zum Erfolg führt.

Romandie besser aufgestellt

Ebenso wichtig wie ein griffiges Strafrecht ist deshalb die Betreuung der Opfer von sexueller Gewalt. Das Opferhilfegesetz sieht zwar vor, dass jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist, Anspruch auf Unterstützung erhält. Doch verantwortlich für die Umsetzung sind die Kantone – und dort sind die Unterschiede beträchtlich.

Das zeigt eine Umfrage, die von einer interdisziplinären Forschergruppe in Zusammenarbeit mit dem Think-Tank Reatch durchgeführt wurde. So verfügen beispielsweise Bern, der Jura, Uri, die Waadt und das Wallis bereits über eigene Dispositive oder führen diese derzeit ein. In Kantonen wie Appenzell Ausserrhoden, Glarus oder Obwalden existierten dagegen noch kaum Bemühungen, die über einen runden Tisch hinausgingen, heisst es in dem Papier. Allgemein seien die Kantone in der Romandie besser aufgestellt als jene in der Deutschschweiz.

So habe der Kanton Wallis seine Gesetzgebung explizit mit Blick auf die Istanbul-Konvention geändert. Dieses Europarat-Übereinkommen verpflichtet die Schweiz dazu, Frauen vor Gewalt zu schützen. Der Kanton Obwalden gab in der Reatch-Umfrage dagegen beispielsweise an, bisher noch keine konkreten Massnahmen erarbeitet zu haben. Eine zentralschweizerische 24-Stunden-Notrufnummer für Opfer von sexueller Gewalt befinde sich erst im Aufbau. Auch in den beiden Appenzell sind Kontaktgremien erst geplant, wobei noch offen ist, welche Ressourcen zur Verfügung stehen werden.

Teilweise unerfahrenes Spitalpersonal

Die NZZ weiss vom Fall einer Betroffenen, die nach einer Vergewaltigung sowohl im Spital als auch bei der Polizei auf Personal traf, das kaum Erfahrung im Umgang mit Opfern von Sexualdelikten hatte. In eine ähnliche Richtung deutet eine Einschätzung der Rechtskommission des Ständerates aus dem letzten Jahr: An vielen Orten in der Schweiz werde das Sichern von Spuren durch wenig oder nicht spezialisiertes medizinisches Personal durchgeführt, erklärte sie damals. Das mindere die Verwertbarkeit und damit die Chance der Strafverfolgung.

Nach Aussage der Ärztin Rahel Schmidt, der federführenden Autorin der Reatch-Umfrage, schätzen Vertreterinnen und Vertreter der Verwaltung die Betreuung der Opfer allgemein als besser ein, als dies das medizinische Personal tut. Auch das zeigten Befragungen. Der Kantönligeist sei für eine optimale Ressourcennutzung hinderlich, so Schmidt: «Es besteht erheblicher Handlungsbedarf.»

Als Vorreiter auf diesem Gebiet gilt der Kanton Bern. Er führte sein als Berner Modell bekanntes Konzept vor fast vierzig Jahren ein – zu einer Zeit also, als noch nicht einmal die Vergewaltigung in der Ehe strafbar war und das Opferhilfegesetz ebenfalls noch in weiter Ferne lag. «Unser Modell war damals revolutionär», erklärt Nicole Fernandez, Rechtsanwältin und Fachverantwortliche für Sexualdelikte bei der Kantonspolizei Bern. Das Modell basiert auf drei Säulen:

• Umfassende medizinische Versorgung und Spurensicherung: Eine qualitativ hochstehende Betreuung unmittelbar nach der Tat kann negative gesundheitliche, rechtliche und psychosoziale Folgen der Gewalt mindern. So müssen gewisse Medikamente – etwa zur Aids-Prophylaxe oder die Pille danach – rasch eingenommen werden. Auch die Spuren in Blut oder Urin sind nur während einer beschränkten Zeit nachweisbar.

Häufig steht das Opfer unter Schock und ist nicht in der Lage, rasch über eine Anzeige zu entscheiden. Spuren werden dennoch gesichert und während fünfzehn Jahren aufbewahrt. So bleiben die Chancen auf eine Strafverfolgung intakt. Ausserdem sollte bei solchen Delikten nicht vorschnell auf Genugtuung und Schadenersatz verzichtet werden, erklärt Fernandez. Doch das erfordere entsprechende Kompetenzen bei der Beratung.

Für kleine Kantone eine Herausforderung

• Die Betreung durch weibliche Fachpersonen. Dieses Element gehört inzwischen auch ausserhalb des Kantons Bern vielerorts zum Standard: Dies, weil in den meisten Fällen Frauen betroffen sind. Heute gelte im Kanton Bern, dass dem Opfer die Wahl offenstehe, welchem Geschlecht die Betreuungsperson zugehören solle, erklärt Fernandez. Dabei geht es nicht nur um die psychische und physische Betreuung, sondern auch um korrekte rechtliche Beratung.

Vor allem in kleinen Kantonen kann dies allerdings zum Problem werden. Es sei in einem kleinen Polizeikorps herausfordernd, eine lückenlose Abdeckung während 24 Stunden an 365 Tagen pro Jahr durch Polizistinnen zu gewährleisten, erklärte beispielsweise der Kanton Uri kürzlich im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage. Dies, auch wenn es bei der bisherigen Anzahl der Fälle gelungen sei, die Betreuung durch weibliches Personal abzudecken.

• Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Akteuren: Polizei, Staatsanwaltschaft, medizinisches Personal und Opferhilfe müssen mit den unterschiedlichen Bedürfnissen vertraut sein. Der Kanton Bern hat dafür ein Gremium geschaffen, das sich mindestens vier Mal jährlich zu einem institutionalisierten Austausch trifft. Bei Bedarf ist in diesem auch ein auf den Einzelfall abgestimmtes Case-Management möglich.

Dies ist laut Fernandez wichtig, um Abläufe zu verbessern und jederzeit Anpassungen an medizinische, gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen vornehmen zu können. So könnte das neue Sexualstrafrecht dazu führen, dass sich Beweisanforderungen ändern: Denn unter den Tatbestand der Vergewaltigung fallen neu auch «beischlafsähnliche Handlungen», die kein Eindringen des Penis in die Vagina erfordern.

Zürich hat Spezialteam aufgebaut

In mehreren Kantonen seien inzwischen auf das Berner Modell aufbauende Konzepte übernommen worden, so Fernandez von der Kantonspolizei Bern. Für Aufsehen sorgte kürzlich der Kanton Zürich, der für Opfer von Sexualdelikten ein Spezialteam auf die Beine gestellt hat. Sogenannte Forensic Nurses kommen auf Abruf in jedes Spital, um die Spurensicherung vorzunehmen. Und dies unabhängig davon, ob ein Opfer schon dazu bereit ist, die Polizei einzuschalten.

Doch längst nicht überall ist dieser Standard erreicht. Das Parlament hat deshalb vor einem Jahr beschlossen, dass in allen Regionen Krisenzentren nach dem Berner Vorbild geschaffen werden sollen. Derzeit ist der Bundesrat daran, die entsprechenden Rahmenbedingungen auszuarbeiten.

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