Auch Christen, Drusen und Alawiten hatten unter dem repressiven Regime Asads zu leiden. Wenn sie ihn trotzdem unterstützten, dann vor allem aus Angst vor den Islamisten – einer Angst, die Asad selbst gezielt befeuert hat.
Nach dem Sturz von Bashar al-Asad blicken die syrischen Christen, Alawiten, Schiiten und Drusen voller Sorge auf die neuen islamistischen Herren in Damaskus. Viele trauen den Zusagen der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) nicht, die Minderheiten zu schützen und die Religionsfreiheit zu achten. Sie erinnern sich noch gut daran, wie die Islamisten während des Bürgerkriegs christliche und alawitische Viertel überfallen haben. Gerade die Alawiten, aus denen die Asad-Familie stammte, sind skeptisch, dass die HTS ihre Versprechen einhalten wird.
«Während der Offensive auf Damaskus hat der HTS-Führer Abu Mohammed al-Julani versucht, die Ängste der Minderheiten zu besänftigen», sagt der Syrien-Experte Heiko Wimmen von der International Crisis Group. Nach der Eroberung Aleppos seien Lautsprecherwagen durch die Strassen gefahren, um den Christen zu versichern, dass sie nichts zu befürchten hätten. Und tatsächlich habe es in Aleppo, Homs und Damaskus bisher kaum Gewalt gegen Minderheiten gegeben.
«Trotzdem sind viele Alawiten vor den Rebellen aus Homs und Damaskus in die alawitischen Gebiete an der Küste geflohen», sagt Wimmen. Viele Führungskader sollen in den von der Hizbullah-Miliz kontrollierten schiitischen Vierteln im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut Zuflucht gesucht haben. Für die Alawiten, die in den vergangenen fünf Jahrzehnten den syrischen Staat dominiert und das Rückgrat der Armee gebildet haben, ist der Sturz des Asad-Regimes ein tiefer Einschnitt.
Syrien ist ein buntes Mosaik aus Volks- und Religionsgruppen
Der Triumph der sunnitischen Islamisten bedeutet eine grundlegende Neuordnung der Machtverhältnisse in Syrien. Noch ist nicht klar, wie sie aussehen wird. Doch auch wenn die HTS das Versprechen einhalten wird, keine Rache an Alawiten, Christen, Drusen und Schiiten zu nehmen, wird sich das Verhältnis der Volks- und Religionsgruppen wohl dauerhaft verschieben. Schon vor dem Krieg war ihr Verhältnis von Spannungen geprägt, und die Greueltaten des Regimes und der Rebellen haben das Misstrauen nur noch vertieft.
Vor dem Krieg machten die arabischen Sunniten 65 Prozent der rund 22 Millionen Syrer aus. Dominiert wurde der Staat aber von den Alawiten – den Anhängern einer heterodoxen Strömung des schiitischen Islams, die von vielen Sunniten nicht als echte Muslime akzeptiert werden. Die Asad-Familie, die Syrien seit 1971 mit eiserner Hand regierte, gehört zu den Alawiten. Sie leben vorwiegend an der Mittelmeerküste bei Latakia und machten 2011 rund 10 Prozent der Bevölkerung aus.
Die Kurden im Nordosten stellten ihrerseits vor dem Krieg etwa 15 Prozent. Weitere 5 Prozent waren Christen, von denen die Mehrheit in Grossstädten wie Aleppo und Damaskus lebte. Die meisten Christen gehörten der griechisch-orthodoxen Kirche an. Hinzu kam eine kleinere Gemeinde katholischer und orthodoxer Armenier sowie einige Aramäisch sprechende Assyrer. Die Drusen im Süden um Suweida machten schliesslich etwa 3 Prozent der Bevölkerung aus.
Der Anteil der Christen, Drusen und Alawiten sinkt seit langem
Der französische Geograf Fabrice Balanche, der seit langem zu den Volksgruppen Syriens forscht, verweist darauf, dass sich die Komposition der Bevölkerung in den Jahrzehnten vor dem Krieg erheblich verschoben habe. «Der Anteil der arabischen Sunniten ist rapide gestiegen, da sie eine deutlich höhere Geburtenrate hatten», sagt der Forscher der Universität Lyon. Der Anteil der Christen, Drusen und Alawiten sei dagegen gesunken, da sie weniger Kinder bekommen hätten und über die Jahre viele ins Ausland emigriert seien.
Diese Verschiebungen sorgten für Spannung zwischen den Volksgruppen und waren mit ein Grund für den Ausbruch des Bürgerkriegs. Angesichts der wachsenden Dominanz der Sunniten präsentierte sich Bashar al-Asad als Beschützer der religiösen Minderheiten und als Garant der Religionsfreiheit. Unter Asads säkularer Baath-Partei waren die Christen tatsächlich weitgehend frei, ihren Glauben zu praktizieren, Schulen zu betreiben und ihre Kirchen und Klöster zu pflegen.
Allerdings hatten unter dem autoritären Regime Christen, Drusen, Schiiten und Alawiten genauso zu leiden wie die sunnitische Mehrheit. Wer den Präsidenten zu kritisieren wagte, dem drohten Festnahme, Folter und Schlimmeres – egal, welcher Konfession er angehörte. Die Kirchenführer standen zwar fest zu Asad, doch zählten zur Opposition auch stets Christen wie der Journalist Michel Kilo und der Politiker George Sabra, der 2012 für kurze Zeit die Opposition im Exil anführte.
Das Regime hat gezielt zur Konfessionalisierung beigetragen
Als sich im März 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings das Volk erhob, schlossen sich Bürger aller Konfessionen den Protesten an. Doch das Regime strebte früh danach, dem Aufstand eine konfessionelle Konnotation zu geben. So schürte es gezielt die Ängste unter Alawiten und Christen vor einer Machtübernahme der Sunniten. Seine Gegner brandmarkte es als religiöse Fanatiker und Terroristen, die das multireligiöse Land in einen Scharia-Staat verwandeln wollten.
Um den Konflikt zwischen den Konfessionen anzuheizen, entliess Asad Tausende Islamisten aus den Gefängnissen. Laut der Opposition setzte das Regime zudem Provokateure ein, um auf Demonstrationen religiöse Slogans zu rufen. Auch soll der Geheimdienst Anschläge auf Kirchen verübt haben, um sie den Islamisten in die Schuhe zu schieben. Indem Asad so zur Konfessionalisierung des Konflikts beitrug, zwang er Alawiten und Christen, sich hinter ihn zu scharen.
«Das Regime hat immer die Spannungen zwischen den Religions- und Stammesgruppen für seine Zwecke genutzt», sagt der Syrien-Kenner Balanche, der zuletzt das Buch «Les leçons de la crise syrienne» veröffentlicht hat. Es habe die Spaltung verschärft, aber nicht geschaffen. Es habe stets einen «tiefen Rassismus» in Syrien gegeben, sagt Balanche. Die Araber hätten die Kurden als minderwertig betrachtet, die Sunniten hätten die Alawiten verachtet, und die Christen hätten auf die weniger gebildeten Sunniten herabgeschaut.
Die Alawiten bildeten das Rückgrat der Armee
Dass unter dem Asad-Regime der Grossteil der Führungsposten in Regierung, Armee und Geheimdienst mit Alawiten besetzt wurde, schürte die Ressentiments gegen die Volksgruppe. Während sunnitische Wehrpflichtige die grosse Masse der Truppen stellten, waren rund 90 Prozent der Offiziere Alawiten. Zwar entstammte Bashar al-Asads Ehefrau Asma einer prominenten sunnitischen Familie. Auch gab es in hohen Staatsämtern stets Sunniten. Die wahre Macht lag aber immer in der Hand des Asad-Clans und damit der Alawiten.
Nachdem Tausende sunnitische Soldaten zu den Rebellen übergelaufen waren, bildeten die Alawiten das Rückgrat der Armee. Die berüchtigten Shabiha-Milizen, die Jagd auf Oppositionelle machten, sowie die Vierte Division von Bashar al-Asads jüngerem Bruder Maher, die zur Sicherung der Macht eine wichtige Rolle spielte, bestanden fast komplett aus Alawiten. Viele unterstützten Asad aber nur widerwillig, da ihre Volksgruppe einen hohen Preis für ihre Loyalität zahlte.
Nirgendwo war der Blutzoll höher als in den alawitischen Bergdörfern an der Küste. Laut Balanche ist dort jeder dritte Mann im Krieg gefallen. Im Rest Syriens galten die Alawiten als reich, korrupt und privilegiert, doch litten sie wie alle anderen unter der Armut und der Inflation. Schon vor Jahren zeigten sich viele Alawiten frustriert darüber, dass sich hohe Offiziere, Funktionäre und Geschäftsleute aus dem Umfeld der Asad-Familie ungeniert im Krieg bereicherten, während Zehntausende junge Männer ihr Leben für die Verteidigung der Führung opfern mussten.
Asad war nicht fähig, die Minderheiten zu schützen
Asad gab sich zwar als Protektor der Minderheiten, doch war er im Krieg weder willens noch fähig, dieses Versprechen einzulösen. Oft überliess er Christen und Drusen sich selbst. «Als immer grössere Gebiete im Süden an die Rebellen fielen, hat das Regime Waffen an die Drusen in Suweida verteilt, da die Armee nicht in der Lage sei, für ihren Schutz zu sorgen», sagt Balanche. Das Kalkül Asads sei es gewesen, dass die Drusen so nicht nur sich selbst, sondern auch das Regime verteidigen würden.
Die Drusen hätten daraufhin zu ihrem Schutz gegen die Jihadisten des Islamischen Staats (IS) Milizen gebildet, sich sonst aber aus dem Krieg herausgehalten. Als das Asad-Regime nach dem Abflauen der Kämpfe 2020 versucht habe, in den Drusen-Gebieten die Kontrolle zurückzuerlangen, hätten sich die Drusen zur Wehr gesetzt, sagt Balanche. Nachdem sie sich allein verteidigt hätten, seien sie nicht bereit gewesen, sich wieder dem Regime unterzuordnen.
Auch die Christen mussten im Bürgerkrieg erfahren, dass sie nicht auf den Schutz des Regimes zählen konnten. Besonders hart traf es das christliche Bergdorf Maalula, das im Herbst 2013 gleich mehrfach von der Nusra-Front, dem syrischen Kaida-Ableger, erobert wurde, bevor die Armee die Kontrolle zurückerlangte. Das für seine Kirchen und Klöster bekannte Dorf nördlich von Damaskus wurde bei den Kämpfen stark zerstört, die meisten Einwohner wurden vertrieben.
Die HTS kann ihren radikalen Ursprung nicht verleugnen
Der Fall von Maalula hilft zu verstehen, warum heute so viele Christen Julani misstrauen, wenn er von Toleranz spricht. Denn bei der Nusra-Front handelt es sich um den Vorläufer der HTS, jener Gruppe, die nun unter Julanis Kommando Asad gestürzt hat. Die Gruppe hat sich zwar 2016 von al-Kaida losgesagt und gibt sich nach dem Zusammenschluss mit anderen Milizen und wiederholten Namenswechseln moderat. Ihren Ursprung kann sie aber nicht verleugnen.
In der Region Idlib, die seit 2017 von der HTS kontrolliert wird, wurden fast alle Christen, Schiiten und Drusen vertrieben. «Die wenigen Christen, die verblieben, stellten für die HTS keine Gefahr mehr dar», sagt Balanche. «Julani hat verstanden, dass es ihm nutzt, die Christen zu tolerieren, um die anderen Volksgruppen zu beruhigen und sich ein gutes Image im Westen zu geben.» Seine Ideologie habe sich aber nicht geändert, und die Vertreibung der Christen und Schiiten sei nur aufgeschoben.
Ohnehin ist die Zahl der Christen seit 2011 stark gesunken. Von den 1,2 Millionen Christen vor dem Krieg seien nur 200 000 in Syrien geblieben, sagt Balanche. Der Rest sei wegen der Kämpfe ins Ausland gegangen – viele von ihnen in den Westen, wo sie bereits Familie gehabt hätten. «Viele der verbleibenden Christen sind nun dabei, ihre Koffer zu packen», sagt der Syrien-Experte. Die Bischöfe versuchten, sie zu beruhigen und zum Bleiben zu überreden. «Sie wissen aber sehr gut», sagt Balanche, «dass es mit den Christen in Syrien zu Ende geht.»

