Dienstag, November 26

Seit fünf Jahren hat sich das Festival Bayreuth Baroque fest in der Wagner-Hauptstadt etabliert, gegen alle Unkenrufe. Und ein Gesamtkunstwerker – das ist der Countertenor und Intendant Max Emanuel Cenčić auch.

Nackte Klassiker sind längst zum Normalfall geworden. Über ein baumelndes Gemächt können heutige Theatergänger nur noch gähnen. Anders war das zur Zeit des Barocks. Damals liess die Schwester Friedrichs II., verheiratete Wilhelmine von Bayreuth, daselbst ein prachtvolles Opernhaus errichten, das heute zum Weltkulturerbe zählt. Wilhelmine war kunstsinnig, hochgebildet und musikbegabt. Prüde war sie nicht. Doch trugen zu ihrer Zeit die besseren Leute, Götter wie Könige, viel kostbaren Stoff zur Schau. Die allegorischen Figuren auf der Bühne, an Decken und Wänden waren entsprechend in luxuriösen Faltenwurf gehüllt, vor allem um die Hüften herum, und selbst den Putten hoch oben im Kirchengewölbe wehte zufällig ein Tüchlein zwischen die Beine.

Auf diese Dezenz im Umgang mit Sitte und Sex spielt der Countertenor Max Emanuel Cenčić an in seiner jüngsten Produktion für Bayreuth Baroque. Er ist der Erfinder und Intendant dieses Festivals, das seit fünf Jahren das Markgräfliche Opernhaus zum Leben erweckt – immer dann, wenn das Wagner-Spektakel droben auf dem Grünen Hügel vorbei ist. Cenčić singt auch eine der Hauptpartien in der spektakulären Ausgrabung einer Oper des neapolitanischen Komponisten und Kastratentrainers Nicola Antonio Porpora. Und er führt Regie. Auch Cenčić ist, typisch für Bayreuth, ein Gesamtkunstwerker.

Kaum singbare Höhenflüge

Zu Beginn der Ouvertüre zu «Ifigenia in Aulide», die von Christophe Rousset und Les Talens Lyriques im französischen Stil zelebriert wird, windet sich ein nackter Nobody auf der Bühne. Ein Mensch liegt verwundet am Boden, er leidet. Und schon stürmen weitere edle Wilde herein, kampfbereit und bewaffnet, mit klassisch hochgezwirbelten Frisuren und Masken. Darunter: alles Natur.

Auch Cenčić selbst, als Agamemnon und alter Grieche, tritt in diesen ersten fünf Minuten sportlich unten ohne auf. Der «König der Könige», wie ihn Oberpriester Kalchas höhnisch nennt, hat soeben auf der Jagd den heiligen Hirsch der Diana erlegt, damit sein darbendes Heer etwas zu essen bekommt. Mit Zähnen und Klauen machen sich die Tänzer über das ausgestopfte Prachtstück her – aber da ist schon die Göttin zur Stelle, in Rage. Als die Ouvertüre vorbei ist, schlägt die Stunde der Kostümbildnerin Giorgina Germanou. Denn die Protagonisten dieser Show sind sämtlich sensationelle Koloratursänger, ihre Luxuskunst wird hier völlig zu Recht ausgestellt und eingerahmt von Brokat, Pelz, Samt und Seide, verarbeitet zu weit fliessenden Mänteln, kostbaren Fantasy-Roben. Allein die Bienenkorb-Perücke von Königin Klytämnestra ist ein Kunstwerk für sich.

Nicola Porpora hat seine Seria-Oper «Ifigenia» anno 1735 auf Brillanz angelegt. Die kurzen Arien sind unerhört reich kolorierte Gefühlsausbrüche, in denen das Unsagbare der Affekte sich entäussert in kaum singbaren Höhenflügen, zirzensischen Sprüngen und atemraubenden Geschwindigkeitsrekorden. Die Partie des Agamemnon komponierte Porpora für den Kastraten Farinelli, die des Achill für den ebenso berühmten Senesino, die der Iphigenie für Francesca Cuzzoni – lauter Stars, die er kurz zuvor bei der Konkurrenz abgeworben hatte: der Londoner Truppe von Georg Friedrich Händel. Hier, in der «Ifigenia», sollten sie ihren Affen um die Wette Zucker geben.

So tut es auch die heutige Bayreuther Besetzung. Kaum zu fassen, dass sich die Stimmakrobatik in der Alten Musik in den letzten Jahrzehnten zu dieser Vollkommenheit entwickeln konnte. Und das betrifft nicht nur die perfekt fokussierten Counter, hier sind alle Stimmfächer stilistisch auf der Höhe. Man hebt mit ab, beim blossen Zuhören. Ja, man vergisst zu atmen. So oder ähnlich muss der Zauber der überirdischen Kastratenstimmen gewirkt haben, von dem die Dichter berichten.

Witzig und beweglich, mit starker Strahlkraft beschwört Nicolò Balducci als Odysseus die Macht der List. Mit sinnlichem Timbre und grossem Volumen berührt Mary-Ellen Nesi als Klytämnestra: Hier ist sie noch sorgende Mutter, nicht Gattenmörderin. Jasmin Delfs verschmilzt in ihrer Doppelrolle als Iphigenie/Diana mädchenhaften Charme mit glitzernder Prächtigkeit. Cenčić verströmt sich balsamisch als zögerlich-zorniger Agamemnon, der nicht kann, wie er will.

Cenčić führt schon seit Jahren eine Agentur für Sänger und umgibt sich gern mit phantastischen Kollegen. Unter ihnen, zum Beispiel, der junge Sopranist Maayan Licht, der sich als Achill mühelos in den Mittelpunkt der Aufführung singt: beweglich, strahlkräftig, betörend vielfarbig. So wehrt er sich gegen den barbarischen Ritus des Menschenopfers und wirbt, höchst modern, um aufgeklärten Humanismus. Nicht umsonst hat Porpora just dieser Achilles-Figur die abenteuerlichsten Passagen, aber auch die innigsten Melodien zugedacht. Herausragend das wutschnaubende Duett, das sich Licht mit dem sonoren Bariton Riccardo Novaro liefert, der als Kalchas hintergründig agiert. Es ist eines von nur drei Ensembles in dieser Bravourarie an Bravourarie reihenden Seria.

«Wir kommen!»

Bayreuth Baroque ist heuer wieder ausverkauft, es wird von Arte gestreamt, und das Publikum ist so international wie oben bei Wagner. Das gilt auch für die Recitals und Kerzenkonzerte, diesmal unter anderem mit Lucile Richardot, Anna Prohaska und Nuria Rial. Nach der Zukunft befragt, sagt Cenčić lachend: «Wir kommen!» Dass sich dieses Festival innerhalb so kurzer Zeit als neuer Hotspot im europäischen Musikleben etabliert hat, liegt freilich nicht nur am guten Sängernachwuchs. Auch die Instrumentalisten und Ensembles haben sich hörbar weiterentwickelt.

Wie stark, das wurde deutlich bei der erstmalig angesetzten zweiten Opernproduktion dieses Jahres: Vivaldis «Orlando Furioso». Keine Wiederentdeckung, vielmehr ein Glanzstück des Repertoires, übernommen aus dem Opernhaus Ferrara, neu besetzt mit Sängern aus dem Cenčić-Orbit. Im attraktiven Spiegelkabinett der Hexe Alcina entwickelt sich ein wüstes Liebesdurcheinander – und auch hier: ein Sängerfest. Und das italienische Ensemble Il Pomo d’Oro formuliert unter Leitung des Cembalisten und Dirigenten Francesco Corti so präzise seine Klangreden, mit einem so feurigen Esprit, dass es Rousset und seine bewährte Truppe sogar noch in den Schatten stellt. Es ist etwas in Bewegung in der Alten Musik.

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