Montag, Dezember 23

Nach dem Sturz von Asad steht Syrien vor gewaltigen Herausforderungen. Europa sollte dem Land dabei helfen, sie zu meistern – obwohl sich der Staat kaum in eine liberale Demokratie verwandeln wird.

Jubelnde Menschen vor der Zitadelle in Aleppo, fröhliche Familien in den Strassen von Damaskus, hoffnungsvolle Jugendliche in der stark zerstörten Stadt Homs – seit dem Sturz von Syriens Machthaber Bashar al-Asad vor zwei Wochen wirkt das Land wie ausgewechselt. Kaum jemand hatte geglaubt, dass es möglich sein könnte, den syrischen Diktator zu stürzen. Doch nach mehr als fünf Jahrzehnten unter der Herrschaft des Asad-Clans haben die Syrerinnen und Syrer plötzlich die Aussicht, in Sicherheit und Würde zu leben – ohne Angst und Unterdrückung.

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Allerdings zeichnet sich ab, dass der Weg dorthin lang und steinig ist – sofern er überhaupt ans Ziel führt. Nach mehr als 13 Jahren Bürgerkrieg ist Syrien bis ins Mark zerstört und muss neu aufgebaut werden – von einer Gesellschaft, die gespalten ist, und von Gruppierungen, die einander misstrauisch gegenüberstehen. Auf welche Weise kann Europa dazu beitragen?

Kontaktaufnahme mit den Islamisten

In Damaskus gibt seit Asads Flucht nach Moskau die Hayat Tahrir al-Sham (HTS) den Ton an unter Führung von Ahmed al-Sharaa, früher bekannt unter dem Namen Abu Mohammed al-Julani. Die islamistische Miliz ist nicht die einzige in Syrien, aber die zurzeit einflussreichste. Sie wird unter anderem von den USA und der Uno als Terrororganisation eingestuft. Die Europäische Union (EU) hat die HTS sowie ihren Anführer Sharaa mit Sanktionen belegt.

Dennoch haben die USA, die EU und Deutschland Kontakt mit den neuen Machthabern in Damaskus aufgenommen. Der islamistische Hintergrund von Sharaa und seinen Vertrauten birgt zwar das Risiko, dass Syrien künftig von Islamisten beherrscht werden wird. Aber die Gruppe zu ignorieren oder ihre Legitimität infrage zu stellen, wäre ebenfalls riskant. Die HTS und ihre Anhänger könnten sich weiter radikalisieren und zur Gefahr für das Land werden.

Wenn westliche Staaten ihre Diplomaten nach Damaskus schicken, geben sie der HTS einen Vertrauensvorschuss, nehmen die Gruppe aber gleichzeitig in die Verantwortung. Sie können ausloten, wer die neuen Machthaber sind, was sie mit Syrien vorhaben und ob es sinnvoll ist, sie zu unterstützen.

In den vergangenen Jahren wurde das Schicksal Syriens massgeblich von Russland und Iran bestimmt. Asads Sturz ist für sie eine Blamage. Jetzt werden die Karten neu gemischt – das ist eine Chance für die Europäer. Ihr Hauptinteresse ist die Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien. Dafür muss ein Staat entstehen, in dem die Menschen sicher und ohne Hunger leben können.

Bildung einer neuen Regierung

Die wichtigste Voraussetzung dafür ist eine neue Regierung, die alle Bevölkerungsgruppen des Landes repräsentiert. Unter Asad gab es bereits vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs Spannungen zwischen den zahlreichen Volks- und Religionsgruppen. Seine Herrschaft stützte sich auf die Minderheit der Alawiten, zu denen auch Asad selbst gehört. Die Ungleichbehandlung führte zu Unmut bei Minderheiten wie den Christen, Drusen und Schiiten, aber auch bei der Mehrheit der Sunniten.

Unter den neuen, sunnitischen Machthabern sorgen sich vor allem Alawiten und Christen davor, marginalisiert und diskriminiert zu werden. Vereinzelt gab es bereits Racheakte: Mehrere Alawiten wurden von Anhängern der sunnitischen Führung in Damaskus massakriert und ermordet. Damit die Alawiten und andere Minderheiten nicht aus dem multikonfessionellen Land vertrieben werden, sollten sie die Zukunft Syriens mitbestimmen und in einer neuen Regierung vertreten sein, die die amtierende Übergangsregierung unter dem Technokraten und HTS-Vertrauten Mohammed al-Bashir ablöst.

Wie genau ein politisches System nach Asad aussehen könnte – darüber haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Syrer im Exil Gedanken gemacht. Die EU könnte – wie schon in der Vergangenheit bei Syrien-Konferenzen in Genf – einen Rahmen anbieten, der Repräsentanten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ermöglicht, offen und kontrovers über die Regierungsbildung, eine neue Verfassung und freie und faire Wahlen zu diskutieren und sie auf den Weg zu bringen. Unter Asad endeten solche Konferenzen ohne Ergebnis. Er hatte aber auch kein Interesse daran, seine Macht zu teilen.

Sicherung der territorialen Einheit

Die territoriale Einheit Syriens zu sichern, ist eine wichtige Aufgabe der von Sharaa ernannten Übergangsregierung. Bislang kontrolliert die HTS lediglich Teile Syriens. Beim Sturz Asads hatten die Syrische Nationalarmee (SNA) und die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) die HTS auf ihrem Vormarsch unterstützt.

Jetzt bekämpfen sich die von der Türkei unterstützen Einheiten der SNA und die kurdisch dominierten SDF gegenseitig. Die Kurden wollen ihre faktische Autonomie im Nordosten Syriens wahren. Ihre Präsenz an der syrisch-türkischen Grenze stellt aber aus Sicht der türkischen Regierung eine Bedrohung dar.

Um innersyrische Kämpfe oder separatistische Bewegungen zu unterbinden, müssten SNA und SDF ihre Kämpfergruppen auflösen und in die Armee integrieren. Die HTS hat bereits angekündigt, das zu tun. Ihr Einfluss dürfte jedoch kaum ausreichen, um die Kontrahenten im Norden dazu zu bewegen. Deshalb müssten sich die Türkei als Unterstützer der SNA und die USA als Verbündete der SDF dafür einsetzen. Das erscheint allerdings als unrealistisch.

Eine weitere Herausforderung sind die zahlreichen lokalen Rebellengruppen im Land. Gemeinsam mit der HTS hatten sie zuletzt gegen Bashar al-Asad gekämpft – und vielerorts die Ausrüstung der desertierten Armeesoldaten eingesammelt. Ob sie bereit sind, sich dem Kommando der HTS unterzuordnen, ist noch nicht klar – und auch nicht, mit welchen Methoden die HTS versuchen wird, sich im Zweifel durchzusetzen. Erste Treffen mit Repräsentanten lokaler Gruppen verliefen offenbar weitgehend konfliktfrei.

Soldaten, die früher auf der Seite von Asad gekämpft haben, sollen ebenfalls in die künftige Armee integriert werden. Dass diese Entscheidung der neuen Machthaber in Damaskus klug ist, zeigt ein Blick in den Irak. Dort wurden nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein 2003 alle Soldaten entlassen, die in seinem Namen gekämpft hatten. Viele von ihnen schlossen sich später der Terrororganisation IS an. Eine ähnliche Entwicklung zu vermeiden, liegt im Interesse aller westlichen Staaten.

Wirtschaftlicher Wiederaufbau

Für viele Syrer hat der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes die höchste Priorität. Zurzeit leben rund 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Etwa zwei Drittel der Menschen in Syrien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Erwartungen an die neue Führung sind entsprechend gross. Ohne Unterstützung aus dem Ausland wird es kaum möglich sein, das Land zumindest auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren.

Syrien braucht neue Strassen, Stromleitungen, eine Wasserversorgung und den Bau ganzer Stadtteile. Die rasche Rückkehr von Hunderttausenden syrischen Flüchtlingen ist angesichts der apokalyptischen Zustände in zahlreichen Gegenden kaum realistisch. Viele Wohnungen, Häuser, Dörfer und Städte sind völlig zerstört – und die Frage, wer sich am Wiederaufbau beteiligt, ist offen.

Die USA, die EU, aber auch die Türkei und die Golfstaaten gehören zu den Ländern, die das grösste Interesse am Wiederaufbau haben dürften. Baufirmen in der Türkei hoffen bereits auf profitable Aufträge. Die Golfstaaten sehen in dem Land die Möglichkeit, zu investieren. Woher das Geld dafür kommen wird, ist allerdings noch nicht klar. Zwischen 250 Milliarden und einer Billion Dollar werden schätzungsweise dafür gebraucht.

Die EU sollte sich am Wiederaufbau beteiligen und ihre Hilfe an Bedingungen knüpfen. Sofern sich die HTS daran hält, sollte Europa Schritt für Schritt die Sanktionen gegen die neuen Machthaber in Damaskus aufheben. Wichtig wäre, dass sich die am Wiederaufbau beteiligten Staaten untereinander abstimmen und gemeinsam vorgehen, damit sich für Sharaa und seine Vertrauten keine Schlupflöcher auftun.

Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen Syrien heute steht, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die HTS mit ihren Vorhaben scheitert. Das Land könnte erneut im Bürgerkrieg versinken oder wieder autoritär regiert werden – dieses Mal von Islamisten. Ein Blick in die Länder der Region stimmt nicht optimistisch: Nach dem Sturz von Diktatoren im Irak, in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen ist die Hoffnung von Millionen von Arabern auf ein Leben in Würde und Freiheit enttäuscht worden. Die Syrer haben mit der Entmachtung Asads nun ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Europäer sollten diesen Prozess konstruktiv und kritisch begleiten.

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