Freitag, August 22

«Es ist ein Genozid», soll der israelische Schriftsteller David Grossman im Gespräch mit der italienischen Tageszeitung «La Repubblica» gesagt haben. Im Interview kommt der Satz nicht vor.

Ein Interview mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman titelte die italienische Zeitung «La Repubblica» am 1. August mit diesem Zitat: «Es ist ein Genozid. Es zerreisst mir das Herz, aber ich muss es sagen.» Das Zitat gab eine gute Schlagzeile her. Sie sorgte für Aufsehen und machte darum auch gleich die Runde. In der Montagsausgabe der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wird die angebliche Kernaussage des Gesprächs so zusammengefasst: «Lange Zeit habe Grossman den Begriff ‹Völkermord› abgelehnt, aber was er sehe und höre, lasse für ihn keinen anderen Schluss zu.»

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Doch weder hat der als Friedensaktivist bekannte Schriftsteller im Wortlaut gesagt, was die «Repubblica» als Zitat mit fetten Lettern in den Titel stellte, noch gibt die «FAZ» seine Aussagen angemessen wieder. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 und dem Überfall der Hamas auf Israel weiss man, dass sich David Grossman nicht scheut, klare Worte zu sprechen, dass er sie aber mit grossem Bedacht wählt. Noch bevor er damals die Hamas verurteilte, kritisierte er den «kriminellen Leichtsinn» der israelischen Regierung, die alles verraten habe, «was uns als Bürgern dieses einen bestimmten Landes teuer war».

Ebenso bedachtsam ist er nun, wenn er sich zu dem schwersten Vorwurf äussert, den man Israel machen kann. Nie sagt er den Satz: Es ist ein Genozid. An keiner Stelle heisst es, die Ereignisse liessen keinen anderen Schluss zu. Es sind Feinheiten gewiss, aber auf die feinsten Unterschiede kommt es an, wenn vom Schlimmsten die Rede ist; mehr noch als sonst zählt hier, wie einer sagt, was er sagt.

Es geschieht Schreckliches

Versuchen wir darum genau hinzuschauen und hinzuhören. David Grossman stellt zunächst eine Frage an sich selbst und seine Landsleute: «Wie ist es möglich, dass wir an diesem Punkt angelangt sind? Dass wir des Völkermords bezichtigt werden? Auch nur das Wort auszusprechen, ‹Genozid›, mit Bezug auf Israel und das jüdische Volk: Diese Verbindung allein müsste reichen, um festzuhalten, dass etwas Schreckliches geschieht.»

Ob er mit der Aussage einverstanden sei, im Gazastreifen sei ein Genozid im Gange, will der Journalist der «Repubblica» wissen. Grossman sagt nicht Ja oder Nein. Jahre habe er sich geweigert, «dieses Wort zu benutzen: ‹Genozid›. Aber jetzt, nach allem, was ich gelesen habe, kann ich mich nicht mehr zurückhalten, es zu gebrauchen.» Dann schränkt er sogleich wieder ein. Das Wort eigne sich dazu, eine Definition zu geben, es diene juristischen Zwecken, er aber wolle als Mensch sprechen, der in diesem Konflikt geboren worden sei und dessen ganze Existenz von diesem Krieg und der Besetzung zerstört worden sei. «Und jetzt muss ich mit unfassbarem Schmerz und gebrochenem Herzen festhalten, was vor meinen Augen geschieht. ‹Genozid›.»

Da steht kein Doppelpunkt vor dem entscheidenden Wort. Und dieses setzt Grossman in Anführungszeichen. Das hat etwas zu bedeuten. Da wir ihn nicht fragen konnten – eine Anfrage blieb unbeantwortet –, muss man mutmassen. Fest steht jedoch: Es gibt kein «ist» zwischen «was vor meinen Augen geschieht» und dem Wort «Genozid». Die Anführungszeichen könnten so viel besagen wie: Es ist nicht mein Wort.

Das kann man für spitzfindig halten; was im Interview darauf folgt, ist es jedoch nicht und unterstützt diese Sichtweise. Grossman sagt, «Genozid» sei ein «Lawinenwort», ist es einmal ausgesprochen, wächst es an wie eine Lawine. «Und es bringt noch mehr Zerstörung und noch mehr Leiden.» Oder anders gesagt: Wer das Wort ausspricht, sei es zustimmend oder ablehnend, bringt keine Geisel nach Hause, gibt keinem hungernden palästinensischen Kind zu essen, holt keine Toten ins Leben zurück. Er schafft nur noch mehr Elend.

Missbrauchter Genozid-Begriff

In der Samstagsausgabe der «Repubblica» hat Grossmann Antwort und Unterstützung von berufener Seite erhalten. Liliana Segre, Holocaustüberlebende und italienische Senatorin auf Lebenszeit, reagierte auf den Beitrag des israelischen Autors. Die Stimme der 94-Jährigen hat in Italien umso mehr Gewicht, als sie sich seit Monaten mit öffentlichen Aussagen zurückgehalten hat. Doch das Interview mit Grossman habe sie nun zu einer Stellungnahme veranlasst, sagt sie. Auch ihr fällt auf, wie Titel und Inhalt des Interviews weit auseinanderklaffen. Im Gespräch mit der Zeitung hält sie lakonisch fest: «Jenseits des Titels kann man seinen Überlegungen vorbehaltlos zustimmen.»

Und wo Grossman fragt, ob Israel stark genug sei, dem «Keim des Genozids» zu widerstehen, bekräftigt auch Segre, es bestehe in Israel das Risiko, beim Unsagbaren anzukommen. Zumal mit einer Regierung, wie sie schreibt, der einige fanatische Minister mit Ansichten von «virulenter Unmenschlichkeit» angehörten.

Ungeachtet all dessen jedoch habe sie sich immer dagegen gewehrt und wehre sich auch weiterhin, dass man den Begriff «Genozid» verwende. Das Wort habe keinerlei analytischen Wert, vielmehr werde es aus rachsüchtigen Gründen verwendet. «Europa schüttelt damit die historische Verantwortung ab, indem man eine Art sinnlose Vergeltung erfindet. Die Schuld soll auf die Opfer des Nationalsozialismus abgewälzt werden, indem man das heutige Israel als neuen Nationalsozialismus darstellt.» Dann erinnert Segre daran, dass der Missbrauch des Genozid-Vorwurfs schon am ersten Tag nach dem Massaker vom 7. Oktober begonnen habe. Das Denkmuster gründe auf einer – vielleicht unbewussten – antisemitischen Haltung.

Man hat in den letzten Tagen in der Zeitung «La Repubblica» zwei besonnene Stimmen von höchst besorgten Juden vernehmen können, die Israel, so sagt es Segre, am «Rand eines Abgrunds» sehen. Die Redaktoren der «Repubblica» haben sich die Freiheit genommen, mit einer möglicherweise unautorisierten Titelwahl, einer jedenfalls, die vom Interview nicht gedeckt war, den Staat Israel rhetorisch in diesen Abgrund zu stossen. Was sie dazu bewogen haben mag, hat ihnen danach Liliana Segre zu erklären versucht.

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