Die Zahl grösserer Streiks hat in den USA zugenommen. Viele Amerikaner sehen darin einen berechtigten Kampf gegen Ungleichheit. Aber viele Gewerkschaften helfen gar nicht den Geringverdienern.
35 Prozent mehr Lohn, 7000 Franken Einmalbonus und zudem ein höherer Arbeitgeberbeitrag für die Pensionskasse: Welcher Schweizer Arbeitnehmer würde Nein sagen zu einem solchen Angebot?
Der Boeing-Belegschaft in Seattle war das aber nicht gut genug. Zwei Drittel lehnten vergangene Woche die aufgebesserte Offerte der Firmenspitze ab – und setzten ihren Streik fort, der inzwischen schon sieben Wochen andauert.
Inflation statt Arbeitsfrieden
Auch die Hafenarbeiter an der amerikanischen Ostküste pokerten hoch. Sie haben mit ihrem kurzen Streik Anfang Oktober sogar 62 Prozent mehr Lohn herausgeholt, gestaffelt über die nächsten sechs Jahre. Der Frieden ist aber nur kurzzeitig gesichert, denn die Gewerkschaft will den Hafenbetreibern zudem das Zugeständnis abpressen, die Docks nicht weiter zu automatisieren. Vor einem Jahr legten die Drehbuchautoren und Schauspieler in Hollywood monatelang die Arbeit nieder, und die Arbeiter der Autobranche wagten die Kraftprobe mit den drei grossen Herstellern Ford, General Motors und Stellantis.
Seit den 1980er Jahren haben sich die Arbeitskonflikte in den USA eigentlich beruhigt, es wird viel weniger gestreikt als in den Dekaden zuvor. Die Zahlen des US Bureau of Labor Statistics zeigen, dass die Zahl der grösseren Streiks 2023 deutlich zugenommen hat.
Der naheliegendste Grund für den neuen gewerkschaftlichen Aktivismus ist die Inflation: Je höher sie liegt, desto weiter gehen die Ansichten auseinander, wie viele Dollar es brauchen wird, um die Kaufkraft zu erhalten. Die Gesamtarbeitsverträge werden in den USA zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften oft über mehrere Jahre hinweg ausgehandelt. 2021 rechnete man mit einer langfristigen Teuerung von rund zwei Prozent pro Jahr; dort liegt auch das Inflationsziel der amerikanischen Notenbank.
2022 erreichte die Inflation in den USA jedoch 8 Prozent, 2021 und 2023 lag sie zwischen 4 und 5 Prozent. Die Arbeitnehmer können sich von ihrem Lohn also weniger Benzin, Eier oder Ferien leisten. Es ist daher verständlich, wenn die Gewerkschaften den früheren Rückstand jetzt wieder aufholen wollen. Über vier bis sechs Jahre gerechnet, erscheinen 20 oder 30 Prozent Lohnzuwachs nicht mehr wie eine absurde Forderung, wenn die betreffende Branche sehr profitabel gearbeitet hat.
Jobs vor Maschinen schützen
Ein zweites, problematischeres Anliegen ist der Kampf gegen die Automatisierung, die so unterschiedliche Berufsgruppen wie Schauspieler und Hafenarbeiter betrifft. In diesem Kampf mögen die Gewerkschaften einige Etappensiege feiern. Aber die Geschichte zeigt, dass sich der technologische Fortschritt auf Dauer nicht verbieten lässt.
Darüber hinaus nutzen die Gewerkschafter das politische Klima geschickt aus. Demokraten und Republikaner veranstalten im Wahlkampf einen regelrechten Schönheitswettbewerb, welches die eigentliche Partei der Arbeiter sei. Unter Donald Trump haben sich die Republikaner zumindest rhetorisch auf die Seite der Arbeitnehmenden gestellt. Joe Biden hat sich im vergangenen Jahr derweil selbst als gewerkschaftsfreundlichsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte bezeichnet.
In der Bevölkerung können die Gewerkschaften ebenfalls auf Unterstützung hoffen, obwohl nur jeder zehnte Arbeitnehmer selbst gewerkschaftlich organisiert ist. In der Privatwirtschaft sind es gar nur 7 Prozent, beim Staat ist es jeder Dritte.
Ungleichheit anders bekämpfen
In Umfragen beklagen die Amerikaner oft, dass der Wohlstand im Land zu ungleich verteilt sei. Gewerkschaften helfen aber nur beschränkt dabei, die Gesellschaft egalitärer zu machen. Viele von ihnen repräsentieren eine privilegierte Minderheit, die sich nicht leicht ersetzen lässt – was ihnen grosse Verhandlungsmacht gibt. Wenn die Hafenarbeiter, die schon heute sehr gut verdienen, ihre Arbeit niederlegen, findet kein Seehandel mehr statt. Damit nehmen sie vor allem andere Arbeitnehmer, deren Jobs deswegen in Gefahr geraten, in Geiselhaft. Auch der Boeing-Streik hat bereits dazu geführt, dass Zulieferer Personal entlassen haben.
Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor sind viel schwieriger zu organisieren: Serviceangestellte, Putzhilfen oder Erntearbeiter. Viele von ihnen sind Immigranten, manche sind illegal im Land. Wer die wirtschaftliche Ungleichheit wirklich bekämpfen will, müsste ihnen helfen, anstatt sich als Streikposten der Gewerkschaften in Szene zu setzen, wie es Joe Biden letztes Jahr tat. Bloss lässt sich damit keinerlei politisches Kapital verdienen.
Stattdessen werden wohl auch in Zukunft aus Washington vor allem warme Worte über die arbeitenden Familien Amerikas zu hören sein. Den Gewerkschaften ist es recht; sie werden das Beste daraus machen.