Freitag, Oktober 18

Vielerorts ist die Begrünung von Dächern heute Vorschrift. Die Schweiz gilt dabei als Vorreiterin. Trotzdem gibt es noch Luft nach oben. Das gilt zum Beispiel für die Kombination mit Solaranlagen.

Ein mit Moos, Gras und Blumen bewachsenes Dach kühlt die Stadt, bietet Lebensraum für Tiere und nützt durch Bindung von CO2 dem Klima. Ist das bepflanzte Dach also die Lösung schlechthin, um Stadt und Natur in Einklang zu bringen und das Klima zu schonen? Bei genauer Betrachtung ist es etwas komplexer. Statik, Ausführung und Pflege – viele Faktoren spielen eine Rolle.

Das Flächenangebot ist riesig: Jedes Jahr werden in der Schweiz 3 bis 5 Millionen Quadratmeter Flachdächer neu gebaut oder restauriert. In vielen Städten und Gemeinden müssen Flachdächer von Neubauten inzwischen begrünt werden. In Zürich gilt diese Regel bereits seit 1991. Seit 2015 ist hier sogar eine Kombination aus Begrünung und Solarpanels Pflicht. In Deutschland hingegen wird vielerorts vor allem auf freiwilliges Engagement und Förderungen gesetzt.

Die Kiesschicht auf dem Flachdach wird ersetzt

Üblicherweise werden Dächer mit einer 4 bis 5 Zentimeter dicken Kiesschicht bedeckt. Die ist notwendig, damit die Dachabdichtung bei einem Sturm nicht wegfliegt. Etwa 80 Kilogramm pro Quadratmeter wiegt der Kies. Ersetzt man die Steine durch mineralisches Granulat und Vegetation, sind die Vorteile so simpel wie überzeugend: Begrünte Dächer binden CO2 und setzen es in Biomasse um. Sie dämmen die darunter liegenden Räume, so dass es im Winter wärmer und im Sommer kühler bleibt. Das spart Energie und verbessert somit auch die CO2-Bilanz.

Begrünte Dächer haben weitere Vorteile: Sie bieten Pflanzen und Tieren Lebensräume, darunter sind auch Rote-Liste-Arten, wie Untersuchungen von Stephan Brenneisen und seinem Team zeigen. Brenneisen ist promovierter Geograf und leitet die Forschungsgruppe Stadtökologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil. Er forscht seit 30 Jahren zu Dachbegrünungen und berät Bauherren im In- und Ausland.

Grüne Dächer können aber noch mehr: Sie halten Regen zurück, was die Kanalisation entlastet und Überflutungen vorbeugt. Sie verlängern die Lebensdauer des Dachs – während ein Kiesdach grob nach 20 Jahren erneuert werden muss, hält ein begrüntes Dach doppelt so lange. Begrünte Dächer binden Staub und Schadstoffe und vermindern Lärm, innen wie aussen. Sie verdunsten Wasser und sorgen dadurch auch dafür, dass sich Städte im Sommer nicht so aufheizen. Nicht unterschätzen darf man zwei psychologische Aspekte: Bepflanzte Dächer können sehr hübsch aussehen, und sie werten das Image des Besitzers auf.

Das Potenzial ist vielerorts noch gross

Noch sind nicht alle Flachdächer bewachsen. In Zürich seien inzwischen gut 5 Millionen Quadratmeter Dach zumindest zum Teil begrünt, das seien 40 Prozent der Flachdächer insgesamt, heisst es in einem Bericht des Fachbereichs Naturschutz von Grün Stadt Zürich. Aber der Bericht merkt kritisch an: «Das Potenzial hinsichtlich Qualität und Quantität ist noch sehr gross.»

Wie es geht, zeigt das Seewasserwerk Moos bei Zürich. Seine 20 000 Quadratmeter Dach sind seit mehr als 100 Jahren begrünt. Damals haben die Erbauer das ausgehobene Erdreich 20 Zentimeter hoch auf das Dach geschaufelt. Heute gibt es dort ein stabiles, ökologisch sehr wertvolles Biotop mit 175 Pflanzenarten, darunter auch gefährdete Spezies. «Dort hat sich eine Orchideenwiese von kantonaler, wenn nicht nationaler Bedeutung entwickelt», sagt Brenneisen.

Was die Kosten in die Höhe treibt

In Bausitzungen beobachtet Stephan Brenneisen immer wieder, dass kurzfristiges Planen dominiert: «Wenn eine Halle 10 Millionen kosten soll und man vorrechnet, dass man mit 12 Millionen für eine höherwertige Ausstattung in 15 Jahren bereits die Mehrinvestitionen wieder kompensiert hat, wird trotzdem gefragt: Geht es auch für 9 Millionen?» Im Zweifel entscheiden sich Bauherren für das billigere Kiesdach.

Teurer ist ein bepflanztes Dach zunächst wegen der Statik. Es muss das zusätzliche Gewicht der Bepflanzung tragen können, also statt 80 Kilogramm 100 bis mehr als 1000 Kilogramm pro Quadratmeter bei Dachgärten. Die Verteuerung gilt vor allem für Hallen. Garagen und Wohnhäuser können mit ihren ohnehin stabilen Betondächern zusätzliches Gewicht gut verkraften.

Der Boden, Substrat genannt, ist mindestens 8 Zentimeter dick. Bis etwa 15 Zentimeter spricht man von extensiver, also magerer Begrünung mit wenigen, wetterrobusten Arten, darüber von intensiver, also üppiger Begrünung mit vielen Arten von Gräsern und Wiesenpflanzen.

Ein zweiter Kostenfaktor ist die fachmännische Hilfe beim Anlegen der Dachbegrünung. Für eine Bepflanzung braucht es eine wurzelfeste Abdichtung aus Bitumen-, Kunststoff- oder Elastomerbahnen. Darüber kommt ein Schutzvlies und darauf das eigentliche Substrat, meist eine Mischung aus Partikeln mineralischer Schüttstoffe, angereichert mit organischen Bestandteilen wie Komposterde, an die sich Wasser und Nährstoffe anlagern können.

Ein begrüntes Dach braucht eine gute Wartung

Nicht nur die höheren Kosten lassen die Bauherren vor dem Engagement für Natur und Umwelt zurückschrecken. Ein bepflanztes Dach braucht Pflege: Man sollte sich mindestens einmal im Jahr um sein Dach kümmern.

Je reichhaltiger das Dach begrünt ist, desto grösser ist der ökologische und klimatische Wert. Auf einer dünnen Substratschicht wachsen nur ein paar niedrige Dickblattgewächse und Moose, die mit den kargen Bedingungen klarkommen. Finden Insekten und Vögel kein Futter, bleiben sie dem wüstenartigen Biotop fern. Hinzu kommt, dass ein extensiv begrüntes Dach im Sommer wochenlang komplett austrocknen kann. Der dämmende Effekt für die Räume darunter ist dann fast null. Entsprechend gering ist auch der positive Effekt für das Klima.

Auf dickem Substrat wachsen grosse Pflanzen

Anders sieht es bei intensiven Dachbegrünungen aus: Bei Substratdicken ab 15 Zentimetern wachsen auch Gräser, ab 20 Zentimetern Büsche und ab 30 Zentimetern sogar Bäume. Insekten und Vögel finden Nahrung, zumal sie dort oben vor zudringlichen Menschen ihre Ruhe haben. Totholzhaufen, Steinhügel und Tümpel schaffen zusätzliche biologische Nischen und fördern die Artenvielfalt.

Langfristige Untersuchungen von Brenneisens Arbeitsgruppe sowie von Grün Stadt Zürich zeigen, dass die Zahlen der Arten und Individuen auf intensiv begrünten Dächern denen am Boden kaum nachstehen. Doch diese Pracht hat ihren Preis: Die Ansprüche an Statik, Pflege und Know-how sind deutlich höher als bei extensivem Bewuchs.

Was ein begrüntes Dach für das Klima bringt, weiss Stephan Weber. Er ist Professor für Geoökologie an der Technischen Universität in Braunschweig und ermittelt seit einigen Jahren die CO2-Bilanz eines knapp 9000 Quadratmeter grossen Gründachs auf einem Gebäude des neuen Flughafens Berlin Brandenburg mithilfe mikrometeorologischer Messungen. Die Werte für die ersten fünf Jahre zeigen, dass ein Quadratmeter extensiv begrüntes, nicht künstlich bewässertes Dach im Durchschnitt gut 500 Gramm Kohlendioxid pro Jahr aus der Atmosphäre bindet. Das entspricht ungefähr dem Wert von normalem Rasen.

Wie ein begrüntes Dach dem Klimaschutz dient

Hochgerechnet auf 150 Millionen Quadratmeter Flachdach in der Schweiz liessen sich mit extensiver Dachbegrünung demnach theoretisch 75 000 Tonnen CO2 jährlich binden. Das klingt beeindruckend, fiele aber mit einem Anteil von nicht einmal 2 Promille am nationalen CO2-Ausstoss kaum ins Gewicht.

Zusätzlich zur direkten Kohlendioxid-Bindung helfen begrünte Dächer aber auch, Energie für Heizung und Klimatisierung der darunter liegenden Räume einzusparen. Stephan Brenneisen beziffert den Gewinn ganz grob auf 50 Rappen pro Quadratmeter und Jahr.

NZZ Planet A

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Die Nutzung von Flachdächern für Solarpanels macht der Dachbegrünung grundsätzlich Konkurrenz. Doch Solarindustrie und Dachbegrüner schliessen immer öfter Kompromisse. Die Verbände der Solar- und der Grünbranche betonen die Synergieeffekte: Da die Leistung von Solarzellen bei Hitze sinkt, nützt ihnen der Kühleffekt der Pflanzen. Und die Vegetation profitiert, weil die stellenweise Beschattung des Dachs durch die Panels unterschiedliche Mikroklimazonen und damit Biotope schafft.

Damit sich Pflanzen und Photovoltaik nicht in die Quere kommen, muss man die Solarpanels nur auf ein etwas höheres Gestänge stellen. Am besten sind, wie Brenneisen zeigen konnte, senkrecht stehende Panels. Sie fangen sehr effektiv die Morgen- und Abendsonne ein. Für die Vegetation auf dem Dach lassen sie ausreichend Platz.

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