Mittwoch, Januar 15

Die Abstimmung zur Gewerkschaftsinitiative für einen AHV-Ausbau könnte knapp ausfallen. Unter Umständen spielt das Ständemehr das Zünglein an der Waage. Dieses ist aber voraussichtlich eine kleinere Hürde als bei der Volksinitiative zur Konzernverantwortung.

Kassiere höhere Renten, und lass andere später dafür bezahlen. Diese Forderung der Gewerkschaftsinitiative für höhere AHV-Renten klingt für das breite Publikum attraktiv. Die Initiative hat gute Chancen auf eine Volksmehrheit.

Noch kann viel passieren. Im Szenario eines knappen Volksmehrs rückt die zweite Hürde für die Volksinitiative in den Fokus: das Ständemehr. Erinnerungen an die Volksinitiative zur Konzernverantwortung könnten dabei wach werden. Jene Vorlage erreichte im November 2020 mit 50,7 Prozent Ja-Stimmen eine Volksmehrheit, scheiterte aber klar am Ständemehr.

Die 26 Kantone haben total 23 Standesstimmen zu vergeben (20-mal eine volle Standesstimme und 6-mal eine halbe). Die Initiative zur Konzernverantwortung wurde in 14,5 Ständen von der Mehrheit der Urnengänger abgelehnt. Auffällig war nicht nur der Graben zwischen der Deutschschweiz und der lateinischen Schweiz, sondern auch zwischen Stadt und Land. Besonders in ländlichen Kantonen in der Innerschweiz und der Ostschweiz gab es klare Nein-Mehrheiten.

54 Prozent Ja erforderlich

Hier nur zwei Zahlen: In den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Nidwalden, Obwalden, Schwyz und Uri gab es im Mittel 63 Prozent Nein-Stimmen, während im Kanton Basel-Stadt nur 38 Prozent ein Nein einlegten. Um die Hürde des Ständemehrs zu überspringen, hätte die Konzernverantwortungsinitiative landesweit einen Ja-Stimmen-Anteil von etwas über 54 Prozent gebraucht; diese Rechnung beruht auf der Annahme, dass sich die zusätzlichen Ja-Stimmen proportional auf die Kantone verteilt hätten.

Erfahrungsgemäss reicht ein nationaler Ja-Stimmen-Anteil von 54 bis 55 Prozent praktisch immer auch für ein Ständemehr. Bei der Initiative für höhere AHV-Renten dürfte diese Hürde überdies tiefer sein als bei der Konzernverantwortungsinitiative. Grund: Bisher zeigt sich in der AHV-Frage im Unterschied zu vielen anderen Vorlagen kein grosser Graben zwischen Stadt und Land. Dies senkt die Wahrscheinlichkeit, dass ländliche Regionen und Kantone mit einer Ablehnung eine Volksmehrheit für die Initiative übersteuern.

Illustriert ist dies in der ersten Trendumfrage des Forschungsinstituts GfS Bern vom Januar im Auftrag der SRG. Der Anteil der Befragten, die sich «bestimmt» für die Initiative aussprachen, war in ländlichen Gebieten praktisch gleich gross wie in kleinen/mittleren Agglomerationen und in grossen Agglomerationen (vgl. Grafik). Das Gleiche gilt für die Anteile der überzeugten Ablehner. Differenzen je nach Siedlungsart sind am ehesten bei den noch nicht voll Überzeugten festzustellen, aber auch dort sind die Differenzen relativ gering.

Kein Stadt-Land-Graben in Sicht

Haltungen zur Initiative für höhere AHV-Renten, nach Siedlungsart, in Prozent der Befragten

All dies heisst nicht, dass mit 50,1 Prozent Ja-Stimmen sicher auch das Ständemehr erreicht wäre. Der Politologe Lukas Golder von GfS Bern sagte am Donnerstag auf Anfrage, man könne zurzeit noch nicht einmal abschätzen, ob das Ständemehr eine zusätzliche Hürde darstellen werde. Dies schliesst laut Golder aber nicht aus, dass sich im Szenario eines knappen Ausgangs gezielte Ständemehr-Kampagnen in einzelnen Kantonen lohnen könnten. Als mögliche Kandidaten nennt Golder die Kantone Luzern, Basel-Landschaft und Solothurn.

2016 war eine praktisch gleiche Initiative der Gewerkschaften an der Urne mit rund 59 Prozent Nein-Stimmen gescheitert. Jene Initiative forderte eine Erhöhung der AHV-Renten um 10 Prozent, die neue Initiative will eine Erhöhung um 8,3 Prozent. Beim Urnengang von 2016 hätte es bei einem landesweiten Anteil von rund 53 Prozent Ja-Stimmen und der proportionalen Verteilung der Zusatzstimmen auf die Kantone auch ein Ständemehr für den Vorstoss gegeben. Doch damals waren die Differenzen zwischen Stadt und Land deutlich grösser als heute.

Opferquote nur 1 Prozent

Obwohl die Debatte über das Ständemehr nach dem Urnengang zur Konzernverantwortungsinitiative neu angeheizt worden war, spielt das Ständemehr selten die entscheidende Rolle. Laut Angaben der Bundeskanzlei sind bisher in der Geschichte nur zehn Vorlagen zur Änderung der Bundesverfassung allein am Ständemehr gescheitert. Die Initiative zur Konzernverantwortung war erst die zweite Volksinitiative, die dieses Schicksal traf.

Zum Vergleich: Bisher gab es 228 Urnengänge über eidgenössische Volksinitiativen. Davon waren 25 erfolgreich. Von den gut 200 Volksvorstössen, die an der Urne scheiterten, blieb also nur jede hundertste allein am Ständemehr hängen. Rein rechnerisch hält sich somit die Bedeutung des Ständemehrs in engen Grenzen.

In vier Fällen von Urnengängen über Änderungen der Bundesverfassung gab es bisher das umgekehrte Szenario: Eine Vorlage schaffte das Ständemehr, scheiterte aber am Volksmehr.

Vierter Versuch seit 2000

Das Schicksal der Initiative für höhere AHV-Renten wird man erst am Abstimmungssonntag kennen. Schon heute ist aber abschätzbar, dass die Initiative deutlich mehr Ja-Stimmen machen wird, als dies die Vorgänger-Initiative 2016 schaffte.

Am 3. März entscheiden Volk und Stände bereits zum vierten Mal seit dem Jahr 2000 über eine Initiative zu einem massiven AHV-Ausbau in Form höherer Jahresrenten oder eines tieferen Rentenalters. Die Befürworter eines Ausbaus können es immer wieder versuchen, und sie haben dabei einen grossen Vorteil: Sie müssen nur einmal gewinnen. Dann wird der beschlossene Ausbau nach aller politischen Erfahrung bis zum Untergang des Abendlandes in Stein gemeisselt bleiben.

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