Freitag, Oktober 4

Ein europäisches Grossprojekt der Kernfusion verzögert sich. Derweil versuchen private Firmen, schon in 10 bis 20 Jahren erste Fusionsreaktoren zu bauen. Ist ihren Versprechungen zu trauen?

Seit Anfang Juli ist klar: Die von 33 Staaten getragene Kernfusion-Initiative wird bis zur Mitte des Jahrhunderts keinen CO2-freien Strom zum Kampf gegen die Klimakrise beisteuern. Aufgrund gravierender Mängel bei wichtigen Bauteilen wird sich die Inbetriebnahme des International Thermonuclear Experimental Reactor, kurz Iter, im südfranzösischen Cadarache erneut erheblich verschieben.

Gemäss dem neuen Zeitplan soll erstmals 2039 mehr Energie produziert werden, als zur Heizung des Plasmas benötigt wird, also der Teilchenwolke in dem Reaktor. Bei Iter handelt es sich aber nur um eine Versuchsanlage, die gar nicht dafür ausgelegt ist, Strom ins Netz einzuspeisen. Das würde erst ein nachfolgender Reaktor namens Demo leisten.

So viel Zeit stehe nicht zur Verfügung, sagen Privatunternehmen. Weltweit haben sich inzwischen rund 45 Startups dem Ziel verschrieben, schon in den 2030er oder spätestens in den 2040er Jahren erste Kernfusionsreaktoren zu bauen, in ihnen Wasserstoffteilchen kontrolliert zum Verschmelzen zu bringen und dabei – wie auf der Sonne – enorme Energiemengen zu erzeugen.

Einige dieser Firmen setzen ähnlich wie das Iter-Projekt darauf, ein viele Millionen Grad heisses Plasma mit extrem starken Magneten einzuschliessen. Andere verfolgen den nach Rekorden bei der Energieausbeute jüngst weltweit gefeierten alternativen Weg, Wasserstoffkügelchen mit intensiven Laserstrahlen zu beschiessen.

Weil immer mehr Strom gebraucht wird, hat auch die Kernfusion eine Chance

Der Business-Case dieser Fusions-Startups ist simpel: Der Bedarf der Menschheit an Elektrizität wächst. Ob der Ausbau erneuerbarer Energiequellen da mithalten und Strom aus Photovoltaik, Wind und Biomasse wirklich zu jeder Tages- und Jahreszeit stabil zur Verfügung stehen kann, ist unsicher.

«Erneuerbare Energie plus Strom und grüner Wasserstoff aus Kernfusion – das wäre meiner Ansicht nach der beste Mix für eine wirklich nachhaltige Energieversorgung», sagt der deutsch-amerikanische Tech-Unternehmer und Milliardär Frank Laukien. Er ist der CEO von Bruker, einem Hersteller von Hightech-Geräten, sowie der Initiator von Gauss Fusion mit Sitz im hessischen Hanau. Die Firma präsentiert sich forsch als «Greentech»-Unternehmen, weil bei der Fusion weder CO2 noch langlebiger Atommüll entstehe und der Material- und Flächenbedarf deutlich geringer sei als bei Ökostrom.

Die von fünf europäischen Firmen gegründete Gauss Fusion will einen ersten grossen Reaktor namens Gauss Giga spätestens 2045 in Betrieb haben. Seit Februar sucht die Firma in Kooperation mit der Technischen Universität München in sechs EU-Ländern nach geeigneten Standorten.

Laut neuen Zahlen des Branchenverbands Fusion Industry Association von Ende Juli flossen 2023 weltweit rund 900 Millionen Dollar neu in Kernfusionsfirmen, jeweils zur Hälfte von Privatinvestoren und aus staatlicher Forschungsförderung. Insgesamt hätten diese Firmen damit bisher 7,1 Milliarden Dollar für ihre Mission erhalten.

Gut die Hälfte der Startups sitzt in den USA. Aber auch Europa hat viel zu bieten, zum Beispiel Proxima Fusion. Die erst im Mai 2023 gegründete Firma ist ein Spin-off des Max-Planck-Instituts für Plasma-Physik (IPP), das zu den weltweiten Führern in der Fusionsforschung zählt. Das junge Team will für den Standort München einen Demonstrationsreaktor entwickeln, der schon in den 2030er Jahren in Betrieb gehen soll. Seit neuestem kooperiert Proxima Fusion im Bereich der Magnettechnologie mit dem Paul-Scherrer-Institut in Villingen in der Schweiz.

Proxima Fusion und Gauss Fusion setzen beide auf ein weiterentwickeltes Reaktorkonzept namens Stellarator. Der wichtigste Unterschied zur traditionellen, sogenannten Tokamak-Bauweise ist die Form der Herzkammer der Anlage. Dort halten magnetische Kräfte das viele Millionen Grad heisse Fusionsplasma in Schach, von den Aussenwänden entfernt.

Wird die Herzkammer wie ein Bagel aussehen?

Beim Tokamak ist diese Herzkammer symmetrisch geformt wie ein hohler Bagel, beim Stellarator dagegen kompliziert verdreht. Die aufwendigere Bauweise erlaubt laut den Firmen einen kontinuierlicheren Betrieb eines Reaktors. Zudem sei der Strombedarf, um das einschliessende Magnetfeld zu schaffen, deutlich geringer.

In Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern betreibt das Max-Planck-Institut bereits seit 2016 einen wissenschaftlichen Versuchs-Stellarator. Darauf kann Proxima Fusion wegen der wissenschaftlichen Mitwirkung von Teammitgliedern aufbauen. Gauss Fusion hat ebenfalls einen Nutzen davon, weil Bruker ein Zulieferer von Komponenten ist.

Die Mitarbeiter des Greifswalder Stellarators feierten Anfang 2023, dass sie ein Plasma für acht Minuten aufrechterhalten konnten. Die nächste Zielmarke sind dreissig Minuten. Das spiegelt auch wider, wie viel bis zu einem normalen Reaktorbetrieb rund um die Uhr noch zu tun ist.

Das Problem mit Tritium

Eine weitere grosse technische Hürde, die für die Kernfusion allgemein noch zu nehmen ist, besteht darin, den Nachschub des Brennstoffs Tritium zu sichern. Tritium ist ein schweres Wasserstoffisotop. Zusammen mit dem leichteren Deuterium, einem weiteren Wasserstoffisotop, ist es für die Fusion unbedingt nötig.

Deuterium kann aus Wasser hergestellt werden. Die Gewinnung von Tritium ist schwieriger. In der Natur kommt das Isotop sehr selten vor. Es soll daher in den Wänden der Reaktorkammer aus Lithium erbrütet werden. Doch der Prozess ist bisher nur im Labor gelungen. Hier baut Gauss Fusion darauf, dass zwei der fünf beteiligten Hightech-Firmen bereits Erfahrung mit Tritium-Technologie haben.

Zu den Vorreitern der anderen Option, der sogenannten Laserfusion, gehört die Firma Focused Energy, die im hessischen Darmstadt massiv investiert. Dort wird gerade das sogenannte Target-Lab vergrössert. Targets sind stecknadelgrosse Kügelchen, die mit rund zwei bis drei Gramm der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium gefüllt sind.

Der Energiegehalt eines einzigen Kügelchens entspricht nach Angaben der Firma etwa dem eines vollgeladenen Akkus eines Tesla Model S mit rund 600 Kilometern Reichweite. Diese Kügelchen werden bei der Laserfusion beschossen, um die Verschmelzung der Wasserstoffteilchen auszulösen. Im Target-Lab soll auch erprobt werden, wie dieser Vorgang tausendmal pro Sekunde ablaufen soll und wie sichergestellt werden kann, dass der Laser sein Ziel stets verlässlich trifft.

Die neue Anlage in Darmstadt soll bereits Ende 2024 fertig sein. Zugleich verlegt die Firma ihren amerikanischen Sitz von Texas nach Kalifornien, um näher an der National Ignition Facility (NIF) in Livermore zu sein. Dort ist im Dezember 2022 ein wichtiger Durchbruch in der Laserfusion gelungen, als in einer Versuchsanordnung erstmals mehr Energie erzeugt wurde als per Laser zugeführt.

2025 will Focused Energy in Kalifornien ein neues Laserlabor eröffnen. Markus Roth, Physiker und Firmenchef, strebt an, bereits in den 2030er Jahren ein erstes Kraftwerk für Laserfusion in Betrieb zu nehmen – dafür kommt auch Deutschland als Standort infrage.

Dagegen hat die in München gegründete Firma Marvel Fusion angekündigt, ihre Forschungsaktivitäten weitgehend in die USA zu verlegen. Die Firma setzt ebenfalls auf Laserfusion und will nun hauptsächlich mit der Colorado State University kooperieren, um eine sogenannte Kurzpulslaser-Anlage zu bauen, die 150 Millionen Dollar kosten soll.

NZZ Planet A

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Allerdings ist der technische Ansatz von Marvel Fusion, auf vergleichsweise geringen Druck und auf einen anderen Brennstoff als Deuterium und Tritium zu setzen, höchst umstritten. Wissenschafter des Max-Planck-Instituts für Plasma-Physik werfen Marvel Fusion vor, Pläne zu verfolgen, die teilweise gegen grundlegende physikalische Gesetze verstiessen. Die Firma weist die Vorwürfe zurück und betont, alle Konzepte seien einer rigorosen Prüfung unterzogen worden.

Riesige Hürden haben noch alle Unternehmen zu nehmen, die das Rennen um das erste Fusionskraftwerk gewinnen wollen. Der grosse Zustrom an privatem und staatlichem Geld gibt den Kernfusion-Startups weiter Aufwind. Doch ein Erfolg ist alles andere als garantiert. Davon, die Kernfusion bei den Strategien der Energiewende fest einzuplanen, raten selbst grosse Befürworter der neuen Technik dringend ab.

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