Im Jahr 2023 haben in der Schweiz erstmals mehr Personen das Kapital aus der Pensionskasse bezogen statt einer Rente. Über die Gründe gibt es Meinungsverschiedenheiten. Ohne Risiken ist der Trend nicht.
Soll man das Pensionskassenvermögen als Rente beziehen oder es sich als Kapital auszahlen lassen? Diese wichtige Frage stellt sich Versicherten bei der Pensionierung.
Das Thema ist brisant. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Bezügerinnen und Bezüger von Kapitalleistungen deutlich gestiegen – sie war 2023 sogar höher als die der Versicherten, die sich für die Rente entschieden. Laut der Neurentenstatistik des Bundes bezogen von den Personen, die 2023 eine neue Leistung der Pensionskasse erhalten haben, 41 Prozent ausschliesslich die Kapitalleistung, 40 Prozent ausschliesslich eine Rente und 19 Prozent einen Mix aus Rente und Kapital.
Mit den im Oktober vergangenen Jahres bekanntgewordenen Plänen des Bundesrats, Kapitalbezüge aus der Pensionskasse und der Säule 3a stärker zu besteuern, ist das Thema noch mehr in den Fokus gerückt. Schliesslich würden viele Bürgerinnen und Bürger eine solche Veränderung im Portemonnaie spüren. Der Kapitalbezug würde weniger attraktiv.
Bei der Diskussion darüber lohnt sich ein Blick auf die Gründe, weshalb sich so viel mehr Versicherte in den vergangenen Jahren für den Kapitalbezug entschieden haben. Mehrere Studien haben sich damit beschäftigt, Vorsorgeexperten schildern Beobachtungen aus der Praxis.
1. Die Umwandlungssätze der Pensionskassen sind gesunken
Eine am heutigen Freitag publizierte Studie des Finanzdienstleisters VZ Vermögenszentrum macht als Hauptgrund für die Zunahme der Kapitalbezüge die niedrigeren Umwandlungssätze bei vielen Pensionskassen aus. Dadurch fielen die Renten viel tiefer aus, und der Rentenbezug werde unattraktiver, heisst es darin.
Mit dem Umwandlungssatz wird das in der Pensionskasse angesparte Vermögen in eine Rente umgewandelt. Hat jemand bei der Pensionierung ein Vorsorgevermögen von 600 000 Franken und der Umwandlungssatz liegt bei 5 Prozent, erhält die Person bis zum Lebensende eine jährliche Rente von 30 000 Franken.
Lukas Müller-Brunner, Direktor des Pensionskassenverbands Asip, weist indessen darauf hin, dass die Umwandlungssätze vor allem aufgrund der demografischen Alterung der Bevölkerung gesunken sind – die angesparten Vermögen in der Pensionskasse müssen folglich für eine immer längere Zeit reichen. Versicherte, die einen Kapitalbezug erwägen, sollten sich bewusst sein, dass auch ihre Lebenserwartung länger ausfallen könnte und dass das aus der Pensionskasse bezogene Geld dann für mehr Jahre reichen müsste.
Der Kapitalbezug hat weitere Risiken. «Zudem können sich Versicherte rasch überschätzen, wenn sie denken, sie könnten das Geld aus der beruflichen Vorsorge selber besser verwalten als die Pensionskasse», sagt Müller-Brunner. Als Beispiel nennt er einen Crash an den Börsen. Beziehe man als Pensionierter eine Rente aus der Pensionskasse, habe der Kurssturz darauf im Normalfall keine Auswirkungen. Verwalte man das Vermögen hingegen selbst, sehe es ganz anders aus.
Vor allem Personen mit wenig Erfahrung im Bereich Finanzen dürften bei der Verwaltung des Vermögens oftmals überfordert sein. Dasselbe gilt für viele ältere Menschen, die möglicherweise krank sind oder deren Kräfte nachlassen. Wie soll etwa ein von Demenz Betroffener, der schon grosse Probleme beim Bewältigen des Alltags hat, ein solches Vermögen verwalten?
Trotzdem gebe es Versicherte, für die der Kapitalbezug die richtige Option sei, sagt Müller-Brunner. Dies gelte beispielsweise für Personen, die bereits bei der Pensionierung wüssten, dass ihre Lebenserwartung geringer sein dürfte als beim Durchschnitt der Bevölkerung.
Für die meisten Personen dürfte es aber aus Sicht von Müller-Brunner ein gutes Geschäft sein, die Rente zu nehmen und folglich die Risiken bei der Vermögensanlage an die Pensionskasse zu delegieren – zumal die Vorsorgeeinrichtung bei der Anlage der Gelder deutlich bessere Konditionen erhalte als Privatpersonen. «Grundsätzlich fehlt es in der Schweiz an Fürsprechern für die Rente», sagt er.
Es gibt auch Stimmen, laut denen der Kapitalbezug des BVG-Obligatoriums nicht möglich sein sollte. Laut dem Berner Vorsorgespezialisten Werner C. Hug zwingen AHV und BVG-Obligatorium den Arbeitnehmenden zum Sparen, mit dem Ziel, eine angemessene Rente im Alter zu erzielen. Mit dem Inkrafttreten der ersten BVG-Revision im Jahr 2005 sei der Kapitalbezug im BVG-Obligatorium über Gebühr geöffnet worden. Damit sei die Bundesverfassung verletzt worden, sagt er.
2. Die Finanzbranche berät die Versicherten oftmals falsch
Laut dem Vorsorgespezialisten Hug hat sich angesichts von Umwandlungssätzen von unter 5 Prozent bei manchen Pensionskassen eine «Beratungsindustrie zur Förderung des Kapitalbezugs» entwickelt. «Eine gierige Finanzindustrie rät den Versicherten dazu, die Ernte einzufahren», sagt er. Finanzinstitute hätten über Jahre hinweg gepredigt, dass vor allem Personen mit höheren Einkommen besser fahren, wenn sie angesichts der sinkenden Umwandlungssätze das Kapital anstatt der Rente beziehen – mit der Absicht, die eigenen Interessen zu fördern.
Gute Berater hingegen würden die Lebensumstände von Pensionierten gründlich analysieren und ein Budget für die Lebenshaltungskosten im Alter aufstellen. Die fixen Ausgaben sollten zuerst durch eine Rente abgedeckt sein. «Manchen Beziehern des Pensionskassenkapitals könnte es so ergehen wie vielen Lottogewinnern», sagt Hug. «Nach wenigen Jahren sind sie pleite.»
Ueli Mettler, Partner beim Pensionskassen-Beratungsunternehmen C-Alm, hält Fehlberatungen von Privatpersonen durch die Finanzbranche für den wichtigsten Grund, weshalb in den vergangenen Jahren mehr Versicherte das Kapital aus der Pensionskasse bezogen haben. Bei den Finanzinstituten gebe es hier erhebliche Interessenkonflikte.
«Sobald sich jemand von der Finanzbranche beraten lässt, was er mit seinem Geld aus der Pensionskasse tun soll, ist das Ergebnis im Allgemeinen der Kapitalbezug», sagt Mettler. Beziehe ein Versicherter die Rente, sei das Geld für ein Finanzinstitut quasi verloren: Der Kunde hat diesbezüglich keinen Beratungsbedarf mehr, und zudem fliesst das Geld auch nicht in Anlageprodukte des Finanzinstituts. Beziehen Pensionierte hingegen das Kapital, gibt es für das beratende Finanzinstitut allenfalls lukrative Geschäftsmöglichkeiten.
3. Pensionskassen wurden «Langlebigkeitsrisiko» elegant los
Allerdings seien auch die Pensionskassen an der Entwicklung nicht unschuldig, findet Hug. Sie hätten ihre Informationspflichten nicht wahrgenommen, woraufhin Finanzinstitute und andere Berater in die Lücke gesprungen seien. «Aber eigentlich wäre es die Aufgabe der Pensionskassen-Stiftungsräte, ihre Versicherten zu beraten.»
Wegen der niedrigen Zinsen und anderer Unsicherheiten an den Finanzmärkten hätten viele Pensionskassen auch durchaus ein Interesse daran gehabt, ihren Versicherten das Kapital auszuzahlen, kritisiert Hug weiter. So seien sie das sogenannte «Langlebigkeitsrisiko» losgeworden. Dieses bezieht sich auf die steigende Lebenserwartung von Versicherten: Entscheiden sich diese für eine Rente, sind die Pensionskassen verpflichtet, ihnen diese lebenslang zu zahlen. Leben die Pensionierten derweil länger als erwartet, entstehen den Kassen nicht eingeplante Kosten.
Aus Mettlers Sicht stehen aber auch die Pensionskassen selbst in der Pflicht, bei der Beratung ihrer Versicherten mehr Verantwortung zu übernehmen. «Hier dürfte in den nächsten Jahren einiges passieren», sagt er. Bei vielen Kassen dürfte in Personal, Systeme und Prozesse investiert werden, um die Versicherten bei der Frage «Rente oder Kapital?» zu unterstützen. «Dies dürfte dann den Versicherten freilich auch etwas kosten», sagt er.
4. Zu geringe Pensionskassenguthaben
Laut der VZ-Studie beziehen Erwerbstätige, die wenig angespart haben, eher das Kapital als die Rente aus der Pensionskasse. Als Grund gilt, dass die Rente sehr bescheiden ausfallen würde. Ausserdem können Pensionskassen auf die Auszahlung einer Rente verzichten, wenn das Guthaben unter einer bestimmten Schwelle liegt.
Jede siebte Person beziehungsweise 13,6 Prozent hatten laut Daten des Bundesamts für Statistik für das Jahr 2019 gar keine Wahl und mussten das Kapital beziehen, weil das angesparte Kapital für eine lebenslange Rente zu gering war. Darauf weist die VZ-Studie hin. Dies sei bei 22,1 Prozent der Frauen und 6,2 Prozent der Männer der Fall gewesen. Mit der Babyboomer-Generation gingen nun immer mehr Personen in Pension, die wegen Mutterschaft und Teilzeitarbeit weniger angespart hätten, heisst es weiter.
Wer dagegen mehr angespart habe, wähle eher einen Mix aus Rente und Kapital. Bei den grössten Pensionskassenguthaben sei ein alleiniger Kapitalbezug sehr selten.
5. Der Kapitalbezug bietet steuerliche Vorteile
Der Kapitalbezug gilt indessen in vielen Fällen als steuerlich attraktiver als die Rente. Die Vorsorgeexperten setzen hier hingegen Fragezeichen.
Wie Mettler in einem Blog schreibt, wird der Steuervorteil des Kapitalbezugs geschmälert, wenn auch indirekte Steuereffekte berücksichtigt werden. Beim Kapitalbezug kommen zur einmaligen Kapitalleistungssteuer noch Belastungen wie die höhere Vermögenssteuer und die Einkommensteuer auf den Kapitalerträgen hinzu. Dies könne je nach Situation dazu führen, dass ein Mix aus Rente und Kapital auf längere Sicht mit weniger Steuern belastet werde als ein reiner Kapitalbezug.
Auch das VZ Vermögenszentrum schreibt in seiner Analyse, der Kapitalbezug führe nicht automatisch zu einem Steuervorteil: «In den ersten Jahren nach der Pensionierung wird der Kapitalbezug sogar deutlich stärker besteuert als der Rentenbezug.» Erst nach sehr vielen Jahren könne sich dies ändern. Mit einem Guthaben von 800 000 Franken dauere es heute im Schnitt rund 15 Jahre, bis der Kapitalbezug steuerlich vorteilhafter sei als der Rentenbezug. «Würden die vom Bundesrat vorgeschlagenen Steuererhöhungen in Kraft treten, wären es künftig fast 17 Jahre. Der Kapitalbezug wäre in diesem Beispiel also erst mit 82 Jahren steuerlich günstiger.»