Freitag, Januar 3

Unzureichend getestete Therapien sind in der Medizin eine Realität. Beim Hörsturz ist die heute übliche Behandlung jetzt überprüft worden: mit ernüchterndem Ergebnis.

Bei vielen, auch häufig angewandten Therapien ist unklar, ob sie dem Patienten tatsächlich helfen. Sind sie aber erst einmal etabliert, lässt sich ihr Nutzen kaum noch überprüfen. Denn die Hersteller von Medikamenten und Medizinprodukten haben wenig Interesse, die dazu nötigen Untersuchungen zu finanzieren, und staatliche Institutionen sind dazu kaum in der Lage.

Es ist zudem nicht leicht, Teilnehmer für eine Studie zu gewinnen, in der eine vermutlich wirksame Therapie mit einer mutmasslich weniger wirksamen Weise verglichen wird. Denn wird eine solche Studie korrekt durchgeführt, kann sich der Patient nicht aussuchen, wie er behandelt wird. Vielmehr bestimmt das Los, wer welche Therapie erhält. So soll verhindert werden, dass bewusste und unbewusste Einflüsse die Behandlungswahl bestimmen und die Ergebnisse somit verzerren können.

Dünn gesät sind Therapien mit belegtem Nutzen unter anderem in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (HNO). So ist bis heute unklar, wie sich ein Hörsturz am besten behandeln lässt. Davon spricht man, wenn eine Person auf einem Ohr – seltener auch auf beiden Ohren – ohne erkennbare Ursache plötzlich deutlich weniger gut hört. In unseren Breitengraden ereilt ein solches Schicksal jährlich zwischen 160 und 400 auf 100 000 Personen, also eine erhebliche Anzahl.

Viele Patienten kommen mit dem Schrecken davon

Rund die Hälfte der Betroffenen kommt mit dem Schrecken davon. Bei den übrigen Patienten bildet sich der Hörverlust hingegen nicht oder nur teilweise zurück und hinterlässt obendrein oft belastende Ohrgeräusche. Die Behandlung eines solchen Tinnitus besteht üblicherweise aus einer mehrtägigen Therapie mit Kortisonpräparaten – Verbindungen, die Entzündungen hemmen und das Immunsystem unterdrücken.

Im Fachjargon Glukokortikoide genannt, dienen diese Mittel häufig als eine Art Notnagel bei entzündlichen Erkrankungen, wenn andere, zielgenauere Therapiemöglichkeiten fehlen. Nach dem Motto «Viel hilft viel» herrscht dabei weithin die Meinung vor, dass sich ein Hörsturz mit hohen Glukokortikoid-Mengen noch besser behandeln lassen sollte als mit der deutlich niedriger dosierten Standardtherapie. Verschiedene Beobachtungen deuten auch in diese Richtung, doch handelt es sich dabei nicht um die Ergebnisse aussagekräftiger wissenschaftlicher Untersuchungen.

Für mehr Klarheit sorgt nun eine neue Studie, die an 39 Kliniken in ganz Deutschland vorgenommen und mit staatlichen Mitteln finanziert wurde. Die daran beteiligten Personen, rund 330 Männer und Frauen mit akutem Hörsturz, waren nach den Regeln des Zufalls auf eine von insgesamt drei Arten behandelt worden: mit einer hohen Glukokortikoid-Dosis, die entweder via Infusion oder in Pillenform verabreicht wurde, oder mit den üblichen, geringeren Mengen dieser Medikamente.

«Die Ergebnisse der Studie haben uns überrascht, wenn nicht schockiert», sagt der HNO-Arzt Stefan Plontke von der Universitätsmedizin in Halle, der Leiter der Studie. «Denn wir waren überzeugt, dass die hohe Kortisondosis besser wirkt.» Das sei jedoch nicht der Fall gewesen, eher im Gegenteil, räumt der Arzt ein.

Nach Hochdosis-Therapie brauchen mehr Patienten ein Hörgerät

Wie sich zeigte, nahm die Fähigkeit der Patienten, mit dem erkrankten Ohr Töne wahrzunehmen, nach allen Behandlungsarten zwar in vergleichbarem Masse zu. Was die Qualität des Hörvermögens angeht, gab es indes Unterschiede. Als ungünstiger als die Standardtherapie erwies sich dabei die hochdosierte Kortisongabe, insbesondere bei intravenöser Gabe. So blieb das Sprachverständnis dieser Probanden stärker beeinträchtigt, die belastenden Ohrgeräusche bildeten sich weniger weit zurück, und es gab mehr Personen, die ein Hörgerät benötigten, als in der Vergleichsgruppe.

Die intensive Kortisontherapie führte darüber hinaus häufiger zu unerwünschten Nebenwirkungen, etwa Entgleisungen des Zuckerhaushalts. Auch die bei einem Probanden aufgetretene Infektion, die einen tödlichen Schlaganfall nach sich zog, lasten die Studienautoren der Hochdosis-Therapie an.

«Da Kortison das Immunsystem unterdrückt, erhöht es die Infektanfälligkeit – und das umso mehr, je höher seine Dosis ist», sagt Plontke. Es sei daher an der Zeit, auch die Standardtherapie auf den Prüfstand zu stellen. Diese werde seit Jahrzehnten angewandt, ohne jemals gründlich untersucht worden zu sein.

«Erstmals getestet wurde sie in den 1980er Jahren in einer Studie, die viele methodische Schwächen aufwies und daher wenig Aussagekraft besass», stellt Plontke klar. Um die Ergebnisse zu verifizieren, hätte sofort eine bessere Studie folgen müssen. Das sei jedoch nicht geschehen.

HNO-Ärzte wollen alte Versäumnisse jetzt nachholen

Vielmehr habe die HNO-Gemeinschaft beschlossen, von nun an allen Patienten mit Hörsturz Kortison zu verabreichen, so kritisiert der Arzt seinen eigenen Berufsstand. Zusammen mit Kollegen von der wissenschaftlichen HNO-Fachgesellschaft und dem deutschen Berufsverband der HNO-Ärzte will er nun das Versäumte nachholen und die Standardtherapie mit Placebo vergleichen.

Auch in vielen anderen Bereichen der Medizin gibt es Therapien, die nie richtig geprüft wurden und sich erst nach jahrelanger Anwendung als unwirksam herausgestellt haben. So galt die Versorgung verengter Herzkranzarterien mit Stents lange Zeit als ein probates Mittel, um Patienten mit atherosklerotischem Herzleiden vorsorglich vor Infarkten zu schützen. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten diese Annahme allerdings nicht bestätigen. Hunderttausende von Herzkranken unterzogen sich daher – und unterziehen sich teilweise immer noch – dem Risiko eines Eingriffs, ohne davon zu profitieren.

Wie diese und unzählige weitere Beispiele illustrieren, sind selbst plausibel erscheinende Hypothesen kein Ersatz für sachgerechte Studien. Denn wirkungslose Therapien setzen den Patienten unnötigen Gefahren aus und belasten das Gesundheitssystem, ohne einen Mehrwert zu bringen.

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