Mittwoch, Juni 26

«The Piano» ist unvergessen, mit «The Power of the Dog» gewann Campion den Oscar für die beste Regie: zum 70. Geburtstag der unnachahmlichen Neuseeländerin

Es ist einer der bekanntesten und meistdiskutierten Filme von Jane Campion: «The Piano», der 1993 in die Kinos kam. Drei Jahrzehnte sind vergangen, das ikonische Bild des schwarzen Klaviers auf einem einsamen Strand vor dem aufgewühlten Ozean, das mit der zarten Silhouette der Protagonistin Ada im viktorianischen Ballonrock eine Einheit bildet, ist doch im kulturellen Gedächtnis tief verankert. Es hat bis heute nichts von seiner evokativen Kraft verloren, seine Faszination bleibt ungebrochen.

Das unverkennbare Bild ruft unmittelbar jenen Sturm der Gefühle in Erinnerung, den das Schicksal der weiblichen Gestalt in «The Piano» beim Publikum auf der ganzen Welt auslöste. Mit Ada – eine ebenfalls unvergessliche, Oscar-prämierte Darstellung Holly Hunters – schafft Campion eine ihrer faszinierendsten und enigmatischsten Heroinnen: eine stumme viktorianische Dame, die mit der Aussenwelt allein durch die Sprache der Musik auf ihrem Klavier kommuniziert.

Unverkennbares Universum

Ihr Vater verheiratet sie mit einem Siedler in Neuseeland, so reist sie mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem geliebten Piano ins Unbekannte. In düsteren Stoffen gefangen, wirkt Ada zunächst in sich gekehrt und äusserst fragil, schliesslich wählt sie selbstbestimmt Liebe und Leidenschaft jenseits der festgeschriebenen Geschlechterrollen ihrer Zeit.

Jane Campion hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass eine ihrer Inspirationsquellen für «The Piano» die Romane der Schwestern Brontë waren. In ihrem Werk fordert sie eigenwillig die Grenzen etablierter Kunstgattungen, verwebt Film, Malerei und Literatur miteinander, lässt sie miteinander verschmelzen, bis ein unverkennbares Universum zum Vorschein kommt.

Immer wieder tauchen wir in Campions Filmen in ungewohnte Traum- und Seelenlandschaften ein, die uns verführen und verwirren. In diesem seltsam faszinierenden Bilderkosmos, in dem sich oft Türen öffnen und schliessen, begegnen uns rätselhafte weibliche Geschöpfe aus verschiedenen Epochen, der Viktorianischen Zeit, der Regency-Ära oder dem ausgehenden 20. Jahrhundert. Sie kämpfen unter patriarchalischer Dominanz um Autonomie und sexuelle Selbstbestimmung und schwanken zwischen Anpassung und Widerstand.

Alle sind sie mit ähnlichen, subtilen Ambivalenzen versehen. Ob ihre Silhouetten in düsteren Krinolinen erscheinen oder durch moderne Jeans provokativ modelliert: Stets führen sie zugleich Fragilität und subversive Lust vor. In vielfachen Varianten verkörpern sie die gleiche Figur, eine leidenschaftliche Grenzgängerin, vielleicht das Alter Ego der Regisseurin, Subjekt und Frau zugleich.

Kein Interesse fürs Showbusiness

Bereits in ihren Anfängen hat Jane Campion weibliche Subjektivität mit einer neuen, radikalen Sensibilität in Szene gesetzt, dabei Genrefesseln gesprengt und das Etikett des «Frauenfilms» stets abgelehnt. 1954 in Neuseeland/Aotearoa in eine wohlhabende Theaterfamilie hineingeboren, interessierte sie sich als Jugendliche nie besonders für das Showbusiness. Sie wollte nicht in die Fussstapfen ihrer Eltern treten, stattdessen erwarb sie einen Abschluss in Anthropologie und reiste in ihren Zwanzigern durch Europa, wo sie in London Malerei studierte.

Schliesslich wurde sie der Malerei überdrüssig, zog nach Australien und besuchte die Australian Film, Television and Radio School. Als junge, unbekannte Regisseurin «von der anderen Seite der Welt» rückte sie mit ihren skurrilen Kurzfilmen ins Zentrum der westlichen Aufmerksamkeit: Ihr Kurzfilm «Peel» gewann 1986 die Goldene Palme in Cannes, mit ihrem spröden Debütfilm «Sweetie» 1989 wurde sie erneut in Cannes für den Hauptpreis nominiert.

In «Sweetie» und ein Jahr später in «An Angel at My Table», einem einfühlsamen, unkonventionell erzählten Biopic über das Leben der neuseeländischen Schriftstellerin Janet Frame, stehen im Zentrum zwei Aussenseiterinnen, die sich in der patriarchalischen Gesellschaft für ihre Andersartigkeit kompromisslos entscheiden.

Mit «The Piano» verliess die Regisseurin die visuelle Extravaganz ihrer Anfänge, näherte sich konventionelleren Erzählformen an, sprengte aber zugleich die Macht- und Blickverhältnisse klassischer Liebesfilme. Allerdings gab es aus feministischer Sicht auch kritische Stimmen zu dem Film und seiner ambivalenten Protagonistin, die zwischen Opferstatus und sexueller Autonomie fluktuiert.

Rückkehr mit «Top of the Lake»

Wie lässt sich heute Campions Umgang mit den kontroversen Themen im Film wie sexueller Übergriffigkeit, Kolonialismus, Darstellung der Maori bewerten?

Vielleicht hat Jane Campion viele Jahre später selbst eine Antwort auf diese Fragen gesucht, als sie für die Realisierung der gefeierten TV-Serie «Top of the Lake» (2013/2017) nach Neuseeland zurückkehrte. In der Protagonistin Robin, von Elisabeth Moss mit beeindruckender Hingabe verkörpert, lebt Ada als moderne Frau weiter: eine Pakeha-Detektivin, die die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, Kolonisatoren und Kolonisierten in dem trügerischen Idyll einer fiktiven neuseeländischen Stadt herausfordert und zur Trägerin einer antikolonialen und feministischen Utopie wird.

Aber schliesslich findet sich Robin allein vor einer geschlossenen Tür wieder, wie auch Isabel – eine intensive Nicole Kidman – am Ende von «The Portrait of a Lady» (1996). Und in der letzten Szene des Erotikthrillers «In The Cut» (2004) schliesst sich die Tür hinter Frannie, einer ungewohnt düsteren Meg Ryan. Sie alle schwanken zwischen Angst und Begehren, zwischen der Tragik des Alltags und der Projektion des Traumes.

Ihre Filme über Frauen haben stets Publikum und Kritik polarisiert. Ironischerweise hat Jane Campion 2022 für «The Power of the Dog», eine Geschichte über toxische Männlichkeit und unterdrücktes queeres Begehren, ihren ersten Oscar als beste Regisseurin erhalten. Ein Glückwunsch zu ihrem Geburtstag und ein weiterer Wunsch gleich hinterher: dass die Sinnlichkeit und die Komplexität des Campion-Kosmos uns noch lange verwirren, überraschen, berühren werden.

Marisa Buovolo ist Kulturwissenschafterin und Publizistin. Jüngst von ihr erschienen ist das Buch «Jane Campion und ihre Filme». Schüren-Verlag, Marburg 2024. 208 S., Fr. 41.90.

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