«Auf allen Vieren», der neue Roman von Miranda July, ist ein Trip: wild, sinnlich, aufwühlend und unerwartet versöhnlich

Miranda Julys Blick sieht oft aus, als ob ihre Gedanken in dem bunten Universum schweben würden, das sie selbst erschaffen hat. Und ihr Körper könnte jeden Moment folgen. Aber das ist Täuschung. Die Künstlerin, Filmemacherin und Autorin ist kein vergeistigtes Wesen, sondern von einer geerdeten Körperlichkeit. Seit sie Kunst macht, anfänglich inspiriert von der «Riot grrrl»-Bewegung, ist der Körper sowohl ihr Werkzeug als auch Studienobjekt. In Performances, in Videos oder später in ihren Spielfilmen wie «Me You and Everyone We Know» und «Kajillionaire» beobachtet sie, was geschieht, wenn fremde Körper miteinander in Beziehung treten. Oder wenn sich zwischen Bekannten die Kräfteverhältnisse verschieben.

July interessiert sich für das Unangenehme, das Faszinierende, das Tabuisierte an menschlicher Interaktion. Jetzt, in ihrem zweiten Roman «Auf allen Vieren», ist es das Altern. Die Menopause. Dieser drohende Absturz in die Unsichtbarkeit, das Ende der Weiblichkeit, die Zielgerade hin zum Tod, die Horrorvorstellung für ihre Protagonistin, deren Leben so viel gemeinsam hat mit jenem von July, dass man sie sich unweigerlich als ihren literarischen Zwilling vorstellt.

Eigentlich will die namenlose Künstlerin, 45 geworden, für zwei Wochen weg von Mann und Kind. Sie will mit dem Auto von Los Angeles nach New York fahren. Sie will die 20 000 Dollar, die ein Whiskeyhersteller ihr für einen Werbespruch bezahlt hat, in Zeit für sich und alte Freunde zu investieren. Aber sie schafft es nur in einen Vorort von L.A. Dort lässt sie sich von ihrem Preisgeld eines der schäbigen Zimmer in einem Motel neu ausstatten. Luxuriös, üppig, weich.

Das Zimmer mit der Nummer 3-2-1 wird ihre Höhle, wo sie schläft, masturbiert, ihre Ruhe hat und sich schliesslich mit Davey trifft, diesem 20 Jahre jüngeren Hip-Hop-Tänzer, mit dem sie eine sonderbare Affäre angezettelt hat: Weil beide in Beziehungen leben, ist alles erlaubt ausser Sex. Dieses Verbot lässt das Paar eine Art von Intimität erfinden, die erregender ist, als Sex es sein könnte – und wie nur Miranda July sie sich ausdenken kann.

In einer Schlüsselszene kommuniziert das emotional geschundene Paar schliesslich mit Tanz. Ein Medium des Ausdrucks, das July von jeher benützt. Seit ein paar Jahren postet sie auf Instagram Videos, in denen sie bizarre Tänze aufführt und ihre Fangemeinde zum Mitmachen auffordert. So ist jüngst in Zusammenarbeit mit sieben Fremden die Videoinstallation «F.A.M.I.L.Y.» entstanden.

Im Video vom 4. Februar 2021 tanzt July aus sich heraus, was später ihre Protagonistin aus sich heraustanzen wird. Diese findet, von Liebeskummer gemartert, nach ihrer Rückkehr nach Hause nicht mehr richtig in ihre Familie hinein. Und dann verschreibt ihr die Gynäkologin auch noch Hormone, «weil Sie sich jetzt in der Perimenopause befinden». Bitte, was? Als sie googelnd Grafiken von steil abfallenden Hormonkurven findet, gerät sie in Panik. Die Linie wird zur Klippe im Geist, über die sie hinunterzustürzen glaubt.

Aber weil Miranda July diese Art hat, mit scheinbar naiver Neugierde auf Schweres zu blicken und dieses durch verspielte Kreativität in Leichtes zu verwandeln, kann sie ihre Protagonistin nicht am Boden aufschlagen und dort liegen lassen. Während sich ihr Zustand der Verwirrung am Anfang noch in der Sprache widerspiegelt – selbst die Typografie ist unruhig –, fängt ihr Ich an, sich neu zu sortieren. Die Reise, die sich von der Strasse ins Innere der Protagonistin verlagert, wird zu einem alles verändernden Trip. Sie wird zu einer neuen Version ihrer selbst, die sie erst noch kennenlernen muss.

Miranda July ist keine Künstlerin, die Botschaften vermitteln oder uns belehren will. Stattdessen behandelt sie uns Menschen als ihre Studienobjekte. Sie erforscht das Leben, indem sie in Tabus hineinbohrt, um etwas hervorzuholen, was sich dort verbirgt, etwas Wahres.

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