Joseph Mohr schrieb ein Gedicht, das er mit einem befreundeten Organisten vortrug. Mehr als zweihundert Jahre später singt ein Viertel der Weltbevölkerung «Stille Nacht». Wie es dazu kam.
Joseph Mohr litt Hunger. Und wer weiss, wie heute Weihnachten gefeiert und besungen würde, hätte Mohr eine Kochstelle in seiner kargen Stube gehabt. Doch die Zeiten um das Jahr 1818 waren nach den Napoleonischen Kriegen hart. Mohr, ein junger Hilfspfarrer aus Salzburg, musste sich zum Essen von den Menschen seiner Gemeinde einladen lassen. Oder mit ihnen im Wirtshaus speisen, wo die einfachen Leute auch tranken und sangen. Mohrs Vorgesetzter beschwerte sich beim Dekanatsvorsteher: «Er singet mit und unter andern oft nicht erbauliche Lieder», schrieb der Pfarrer über seinen Gehilfen. Joseph Mohr liess sich nicht beeindrucken – und dichtete das erbaulichste Weihnachtslied aller Zeiten: «Stille Nacht, heilige Nacht».
Der Zusatz «aller Zeiten» ist im Zusammenhang mit diesem Lied gerechtfertigt, auch wenn er neben der Vergangenheit alle zukünftigen Zeiten einschliesst. Denn kein Weihnachtslied ist öfter übersetzt und häufiger verkauft worden, etliche Interpreten von Helene Fischer über Michael Bublé bis hin zu der politisch umstrittenen Band Frei.Wild interpretieren Mohrs Lied immer wieder aufs Neue und sorgen dafür, dass der Erfolg andauern wird.
Übersetzt in mehr als dreihundert Sprachen und Dialekte
Trotzdem erreicht «Stille Nacht» nicht das Nerv-Potenzial von «Last Christmas» oder «All I Want for Christmas Is You», Weihnachtsschnulzen, die schon durch Petitionen verboten werden sollten. «Stille Nacht» ist anders, nicht nur, weil es nicht von unerfüllter Liebe handelt. Es wird in mehr als dreihundert Sprachen und Dialekten, in Klassik-, Schlager- oder Pop-Versionen gesungen. Mehr als zwei Milliarden Menschen sollen es zur Weihnachtszeit singen, überall auf der Welt. Selig-schmachtend-besinnlich und vor allem: seit mehr als zweihundert Jahren. Woher kommt dieser Erfolg?
Aus dem 6000-Einwohner-Städtchen Oberndorf bei Salzburg – so lautet die einfache Antwort. Dort, in einer Kirche direkt an der Salzach, trug Joseph Mohr sein Lied an Weihnachten 1818 zum ersten Mal vor. Gemeinsam mit dem befreundeten Organisten Franz Xaver Gruber, der die Melodie komponiert hatte. Die beiden sangen «Stille Nacht» nach der Christmette am Heiligabend, an einem Seitenaltar mit einer Gitarre. Für die Menschen, die nicht gleich nach dem Segen heim geeilt waren.
Heute schlendert eine grössere Gruppe asiatischer Touristen über den Platz, an dem früher die Kirche stand. Wegen ständiger Hochwasserschäden wurde sie Anfang des 20. Jahrhunderts abgerissen. Aus dem einstigen Dorfplatz ist seitdem der «Stille-Nacht-Bezirk» geworden, mit Museum, Einkehr, Busparkplatz und einer kleinen Kapelle, die an die geschichtsträchtige Kirche erinnert.
Die asiatischen Touristen fotografieren sie ausgiebig, genau wie alles andere, das ihnen still und nächtlich erscheint: das «Stille Nacht»-Bier, die «Stille Nacht»-Schokolade, die «Stille Nacht»-DVD. Und auch den «Stille Nacht»-Experten. Josef Standl ist seit mehr als dreissig Jahren Vizepräsident der Stille-Nacht-Gesellschaft und beschäftigt sich schon sein ganzes Leben mit dem Lied.
«Es trägt die Sehnsüchte der Menschen in die Welt», sagt Standl. Gerade jene, die zur Weihnachtszeit entstünden: Sehnsüchte nach Frieden und Geborgenheit. «Und das hat nur bedingt mit dem Glauben zu tun.» «Stille Nacht» funktioniere in jeder Sprache und Religion, sagt Standl. «Wer den Text nicht versteht, versteht anhand der Melodie, was das Lied emotional transportiert.»
Da wäre zum einen die Friedensbotschaft, auch wenn das Wort «Friede» im Text nicht vorkommt. Standl holt aus, mit seinen Armen und geschichtlich. Im Ersten Weltkrieg hätten englische und deutsche Soldaten über die menschenvernichtenden Schützengräben hinweg gemeinsam «Stille Nacht» an Weihnachten gesungen. Und zum anderen die Botschaft der Geborgenheit, die sich textlich findet in: «Alles schläft, einsam wacht» oder der Aufforderung «Schlaf in himmlischer Ruh!» Die melodischen und rhythmischen Motive werden in nur wenigen Takten mehrfach wiederholt. Das kreiert eine wiegende, berührende Stimmung.
Dabei sei das Lied anfangs gar nicht publiziert worden, sagt Standl. Erst als ein Orgelmacher aus dem Zillertal die Oberndorfer Orgel reparierte, die Partitur des Organisten sah und mit nach Tirol nahm, ging das Lied auf Reisen. Tiroler Sängerfamilien verbreiteten es nach Deutschland und sollen es nach Amerika exportiert haben. «Stille Nacht» verbreitete sich so rasant und weit, dass sein Ursprung schnell in Vergessenheit geriet. Das Lied wurde zum Allgemeingut, wie ein Volkslied. Seinen Schöpfern brachte es kein Geld ein, da es bis 1841 keine Urheberrechte gab. Jeder konnte «Stille Nacht» verändern, drucken und aufführen, wie er wollte.
Der König suchte nach dem Urheber
König Friedrich Wilhelm IV. von Preussen soll das Lied besonders gemocht haben. Er liess in Salzburg nach seinem Urheber fragen und um eine Abschrift des Originals bitten, da seine Hofkapelle das Lied für eines von Michael Haydn hielt. Dieser war, wie sein berühmterer Bruder Joseph, Komponist, aber eben nicht der «Stille Nacht»-Urheber. Joseph Mohr, der es war, bekam davon nichts mit. Er starb 1848, arm und ohne Nachlass. Doch sein befreundeter Komponist Franz Xaver Gruber, der bei der Uraufführung mitgesungen hatte, erfuhr von der königlichen Anfrage.
Gruber, der inzwischen in die Salinenstadt Hallein gezogen war, schrieb einen Brief. Er betitelte ihn als «Authentische Veranlassung» und belegte somit die wahre Autorschaft des Lieds. Das Original des Briefs liegt heute im Stille-Nacht-Museum in Hallein, zusammen mit vielen weiteren Schriftstücken und Exponaten. «Alle Geschichten rund um ‹Stille Nacht› entspringen dem Archivmaterial in Hallein», sagt Benjamin Huber, Historiker der Stadt.
Das Museum liegt gleich bei der Stadtpfarrkirche, auch hier wurde der Platz drum herum «Stille Nacht»-Bezirk getauft. Vor dem Museum liegt ein einzelnes Grab, das letzte, das von einem einst hier angelegten, aber später aufgegebenen Friedhof blieb. Ehrenhalber. Weil Gruber der Stadt viel vermacht hat. Vor allem «Stille Nacht»-Ruhm.
Durch seine umfassenden Aufzeichnungen und Briefwechsel, die erhalten geblieben sind, weiss man heute noch Details über die Entstehung des nun so berühmten Lieds. Und über dessen Macher. «Joseph Mohr war ein progressiver Pfarrer, er war so, wie wir es von einem heutigen Pfarrer erwarten würden», sagt Benjamin Huber. Mohr sei zwar ein Mann der Kirche gewesen, aber eben einer, der sich stets menschennah gab. Der gern musizierte, sich gern unterhielt.
«Er wollte den von Armut geplagten Menschen zur Weihnachtszeit ein Geschenk machen», sagt Huber. Das Lied sei keines für die Kirche gewesen, es hätte in der Liturgie seiner Zeit keinen Platz gehabt. Auch deswegen sei es 1818 erst nach der Weihnachtsmesse gesungen worden. Während der Krippenfeier, bei der die Figur des Jesuskinds vom Altar zur Krippe getragen wurde.
Heute nimmt man an, dass Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber allein ihr neues Lied sangen. Aus ihren Mündern nahm die «Stille Nacht» ihren Lauf in die Welt. «Weil die Melodie so einfach, einprägsam und schön ist», sagt Benjamin Huber. Man merke sie sich nach dem ersten Hören. «Das Lied verbindet Völker», sagt Huber.
Und es hat heute seinen Platz nicht nur in der kirchlichen Liturgie gefunden – sondern auch im Herzen des Papstes. Franziskus bezeichnete «Stille Nacht» zu dessen 200-Jahr-Jubiläum als sein Lieblingslied. «In seiner tiefen Schlichtheit lässt uns dieses Lied das Geschehen der Heiligen Nacht begreifen», sagte der Papst 2018.