Freitag, Dezember 27

Thorsten Winkelmann, Fondsmanager bei AllianceBernstein, erklärt im Interview, wie er auch in der derzeit schwierigen Lage attraktive europäische Aktien findet, auf welche Titel er setzt – und womit sich Novo Nordisk von Eli Lilly absetzt.

Europas Industrie steckt in einer Krise, auch im Dienstleistungssektor trübt sich die Stimmung zunehmend ein. An der Börse tun sich vor allem die Aktien von kleinen und mittelgrossen Unternehmen seit Jahren schwer. Warum sollte man ausgerechnet in diesem Umfeld auf Europa setzen?

«Mich interessiert, wie sich das einzelne Unternehmen entwickelt. Gute Unternehmen wachsen auch in schwierigen Zeiten profitabel», sagt Thorsten Winkelmann, CIO Europe and Global Growth Equities bei der US-Vermögensverwaltungsgesellschaft AllianceBernstein. Der Fondsmanager setzt mit seinem AB European Growth Portfolio auf profitabel wachsende Unternehmen in Europa.

Grundsätzlich gehe es nicht um Trends, sondern um langfristige strukturelle Themen, betont Winkelmann. Zu den wichtigsten Kriterien gehörten Profitabilität, Preissetzungsmacht und ein wenig kapitalintensives Geschäft. Im Interview verrät Winkelmann, auf welche europäische Aktien er setzt – und warum Novo Nordisk weiterhin seine grösste Position ist.

Herr Winkelmann, mit Ihrem Fonds konzentrieren Sie sich auf europäische Wachstumswerte. Wie schwer fällt es derzeit, überzeugende Argumente für Europa zu finden?

Aktieninvestments sollten niemals ausschliesslich einem Makrobild folgen. Mich interessiert, wie sich das einzelne Unternehmen entwickelt. Was macht das Management, um profitabel zu wachsen? Wenn ich eine Länderallokation vornehme, reduziere ich meine Entscheidung darauf, wo der Hauptsitz eines Unternehmens liegt. Das sagt mir aber nichts darüber, wo das Unternehmen tatsächlich seine Umsätze generiert. In Europa sieht es momentan mau aus, das stimmt. Doch das hält gute Unternehmen nicht davon ab, sich weiterzuentwickeln und profitabel zu wachsen.

Europas industrielle Krise beunruhigt Sie also nicht?

Grundsätzlich wollen wir Miteigentümer eines Unternehmens werden. Wer eine Aktie kauft, macht sich in der Regel keine Gedanken darüber, wann er sie wieder verkauft. Ich kaufe eine Aktie nur, wenn ich überzeugt bin, auch noch in zehn Jahren an dem Unternehmen beteiligt sein zu wollen.

Worauf schauen Sie bei der Aktienauswahl?

Ich suche Unternehmen, die eine überdurchschnittliche Profitabilität erwirtschaften. Das messen wir am Return on Capital Employed, dem ROCE oder am Return on Invested Capital, dem ROIC. Solche Unternehmen schaffen es zu jedem Zeitpunkt des ökonomischen Zyklus, einen ökonomischen Wert zu kreieren, weil ihre Kapitalrenditen höher sind als die Kapitalkosten. Wenn das Unternehmen zudem die generierten Cashflows profitabel ins Geschäft reinvestieren kann, führt dies zum sogenannten Compound-Effekt – auf Deutsch: Zinseszinseffekt. Dafür ist in erster Linie entscheidend, ob das Unternehmen über Preissetzungsmacht verfügt.

Auf welche Unternehmen trifft das zu?

ASML, eines unserer Top-Ten-Holdings, ist ein Monopolist in der EUV-Lithografie. Kein anderer kann diese Maschinen herstellen, die zur Produktion der leistungsfähigsten Prozessoren benötigt werden. Wenn ich davon überzeugt bin, dass immer mehr Rechenleistung auf immer kleinerem Raum benötigt wird, führt kein Weg an ASML vorbei.

Seit Sommer steht die Aktie, wie andere Halbleitertitel auch, unter Druck.

Fairerweise muss man sagen, dass das Kundenpotenzial von ASML relativ begrenzt ist. Der Abnehmerkreis umfasst vor allem Intel, Samsung, SK Hynix und TSMC – eine überschaubare Gruppe. ASML kann quasi nicht ohne sie, aber diese Unternehmen können auch nicht ohne ASML. Ein Beispiel für noch stärkere Preissetzungsmacht aus unserem Portfolio ist Coloplast aus Dänemark.

Ein Unternehmen aus der Medizintechnik.

Das Unternehmen ist Marktführer bei Kathetern und Urostomiebeuteln. Durch die demografische Entwicklung wird es immer mehr alte Menschen geben, die die Kontrolle über ihre Körperflüssigkeiten verlieren. Coloplast kommt zugute, dass sie relativ günstige Produkte anbieten. Ein Urostomiebeutel, den Menschen mit einem künstlichen Darmausgang benötigen, kostet in Deutschland vielleicht 1.30 € oder 1.40 €, wobei täglich fünf bis sechs Beutel benötigt werden. Selbst wenn der Preis auf 1.50 € steigt, wird das Produkt weiterhin gekauft.

Viele Medizintechnikunternehmen haben unter dem Lagerabbau gelitten oder tun dies immer noch. Wie ist das bei Coloplast?

Das Unternehmen hat die allgemeinen Schwierigkeiten in der Lieferkette gespürt. Da es sich jedoch um Produkte handelt, die wiederkehrend konsumiert werden, ist Coloplast weniger stark vom Lagerzyklus betroffen als beispielsweise Sartorius oder andere Medizintechnikunternehmen.

Was macht für Sie ein Wachstumsunternehmen aus?

Es wächst aus eigener Kraft und hängt nicht von einem bestimmten Trend, einem bestimmten Kunden oder einer speziellen Regulierung ab. Und mit Trend meine ich nicht strukturelle Entwicklungen wie künstliche Intelligenz, die langfristig bestehen bleiben. Vielmehr spreche ich von vorübergehenden Trends, wie etwa die Tatsache, dass in den letzten drei Jahren nahezu jeder Adidas-Terrace-Sneaker gekauft hat. Doch was kommt bei Adidas danach? Ich setze lieber auf langfristige strukturelle Themen.

Zum Beispiel?

Energieeffizienz gewinnt immer mehr an Bedeutung, insbesondere im Gebäudesektor. Es geht um Isolierung und die Möglichkeiten der Spezialchemie. Ich denke da vor allem an Sika, die in diesem Bereich führend ist. Dieser Trend wird nicht über Nacht verschwinden. Unternehmen und Regierungen weltweit arbeiten daran, hier Verbesserungen zu erzielen. Wichtig ist mir dabei, dass die Unternehmen nicht nur ihren Umsatz steigern, sondern profitabel wachsen.

Ihre grösste Position ist Novo Nordisk. Das Unternehmen profitiert vom Hype um Abnehmspritzen.

Wir sind bereits seit 2004 in Novo Nordisk investiert. Das Unternehmen ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sich ein Unternehmen über Jahrzehnte positiv weiterentwickeln kann. Die Geschichte von Novo begann mit dem Thema Diabetes. Mit Vektose, der ersten GLP-1-Analoga-Therapie, hat das Unternehmen eine Revolution eingeleitet, weil Patienten damit, anders als mit Sanofis Insulin, nicht Gefahr liefen, an Gewicht zuzulegen. Patienten nahmen nicht nur nicht zu, sondern verloren sogar Gewicht. Dadurch verdoppelte sich der Markt quasi über Nacht. Ist der Trend morgen vorbei? Mit Sicherheit nicht. Der grösste Belastungsfaktor für Gesundheitssysteme weltweit ist nicht Rauchen oder Alkohol, sondern Zucker.

Angespornt durch den Erfolg von Novo Nordisk und Eli Lilly wollen andere Pharmagrössen auf den Zug aufspringen und investieren massiv in Forschung und Übernahmen. Wie gross ist der Burggraben der beiden Unternehmen?

Meiner Ansicht nach ist er sehr gross. Novo Nordisk hat – vielleicht mit guter Vorahnung, vielleicht auch mit etwas Glück – in ihren Studien zum Thema Fettleibigkeit frühzeitig auch die Wirkung des Medikaments auf das Herz und kardiovaskuläre Risiken untersucht. Novo konnte nachweisen, dass ihr Mittel solche Risiken reduziert. Das unterscheidet sie von Eli Lilly und natürlich auch von anderen Konkurrenten, die gerade erst mit ihrer Forschung begonnen haben. Selbst wenn ein Biotech-Unternehmen ein GLP-1-Medikament entwickelt, das statt 20 vielleicht 25% Gewichtsverlust bewirkt, ist damit der positive Effekt auf das Herz noch nicht belegt.

Wie gross ist der Vorsprung von Novo?

Man kann fünf Jahre Forschung nicht in weniger als fünf Jahren nachholen. Und wenn die Konkurrenz in einem halben Jahrzehnt ebenfalls auf fünf Jahre Forschungserfahrung zurückblickt, hat Novo bereits zehn – und wahrscheinlich das nächste Produkt auf dem Markt.

Auf Sektorebene fällt auf, dass Sie ein grosses Übergewicht in Industrieaktien haben. Warum?

Wir haben uns nicht bewusst entschieden, Industrie überzugewichten. Die Sektorallokation spielt bei uns, wie bereits gesagt, keine grosse Rolle, ausserdem ist dieses Segment sehr heterogen. Vielmehr finden wir in diesem Bereich viele Nischenmarktführer, die unsere Kriterien erfüllen. Dabei achten wir besonders darauf, dass die Geschäftsmodelle wenig kapitalintensiv sind.

Ihre drittgrösste Position ist der deutsche Softwarekonzern SAP.

Bei SAP hat die Umstellung vom Lizenzmodell, bei dem Kunden einen einmaligen grösseren Betrag zahlen, auf das Cloud-Modell mit monatlichen Abo-Gebühren etwas länger gedauert. Covid hat hierbei geholfen, vorher waren Kunden sehr sensibel, was die Datenspeicherung in der Cloud betrifft. Doch jetzt erfüllt SAP viele unserer Kriterien: hohe Eintrittsbarrieren, hohe wiederkehrende Umsätze und eine hohe Profitabilität, die zu einem grossen Cashflow führt. Dieser kann wiederum profitabel reinvestiert werden.

Die Börse hat die Entwicklung von SAP bereits mit starken Kursavancen honoriert.

Die ersten Erfolge der neuen Cloud-Strategie lassen darauf hoffen, dass die Reise noch nicht zu Ende ist. Ein gutes Zeichen ist, dass die Lizenzverkäufe zurückgehen, während das Cloud-Geschäft beachtlich wächst. Zudem hat SAP zuletzt grosse Deals gewonnen. Das alles stimmt zuversichtlich. Auch wenn man noch nicht abschliessend sagen kann, dass die Transformation komplett gelungen ist, zeigt der bisherige Weg in die richtige Richtung.

In Ihren zehn grössten Positionen befinden sich auch die Aktien von DSV. Der Logistikdienstleister hat zuletzt die deutsche DB Schenker übernommen. Wie wichtig war dieser Deal?

Der Markt für Logistikdienstleistungen, speziell für Speditionen, war vor zwanzig Jahren noch stark fragmentiert. DSV hat es schnell geschafft, in einem Geschäft mit relativ niedrigen Margen sehr erfolgreich zu operieren. Sie haben früh begonnen, von ihrem ursprünglich skandinavischen Geschäft zu einem globalen Akteur heranzuwachsen. Heute ist DSV der zweitgrösste Freight Forwarder der Welt. Dabei sind sie sowohl organisch als auch anorganisch expandiert. Bei Letzterem haben sie über Jahre hinweg denselben Trick angewandt.

Nämlich?

DSV wartete stets darauf, dass ein Konkurrent schwächelte, um dann die Gelegenheit zu nutzen und das betreffende Unternehmen zu übernehmen. Anschliessend wurde das Geschäft vollständig integriert, Ineffizienzen beseitigt und so in relativ kurzer Zeit die Margen auf das Niveau von DSV gebracht. Das war etwa bei UTi Worldwide oder Panalpina der Fall. Langsam gehen DSV allerdings die Akquisitionsziele aus. DB Schenker galt als der letzte «Königsdeal», den die Dänen machen konnten. Ich denke, wir werden die nächsten drei bis vier Jahre noch viel Freude an diesem Deal haben, sofern DSV auch diese Integration erfolgreich meistert.

Was bedeutet der Deal für Konkurrenten wie Kühne & Nagel?

Bei solchen Integrationsprozessen fallen links und rechts immer ein paar Krümel ab, die die Konkurrenz natürlich gerne aufnimmt. Das dürfte auch hier der Fall sein.

Welche Kriterien erfüllt der deutsche Halbleiterhersteller Infineon, der ebenfalls ein grösseres Gewicht in Ihrem Portfolio hat?

Bei Infineons Produkten sprechen wir zwar nicht über High-End-GPU wie bei Nvidia, sondern über Steuerungschips, die letztlich nur eine Funktion haben: etwas ein- oder auszuschalten. Diese Funktion muss jedoch absolut zuverlässig funktionieren, sonst treten an anderen Stellen Probleme auf. Infineon hat frühzeitig seine Produktionstechniken umgestellt, was das Unternehmen in eine einzigartige Position gebracht hat.

Wie sieht diese aus?

Der Vorteil von Infineon liegt nicht primär in den Chips selbst, sondern in deren Produktion. In der Halbleiterindustrie ist die Grösse der sogenannten Wafer – also der Siliziumplatte, die als Grundlage für die Herstellung von Halbleiterbauelementen dient – entscheidend. Früher hatten diese Scheiben einen Durchmesser von etwa 200 mm. Bei digitalen Halbleitern wechselte man mit der Zeit auf 300 mm, um den Output zu erhöhen. Infineon hat relativ früh damit begonnen, bei den Wafern von 200 mm auf 300 mm umzustellen. Mit 50% grösseren Wafern kann man schliesslich 2/3 mehr Output generieren. Dadurch hat das Unternehmen eine extrem tiefe Kostenbasis, die ihresgleichen sucht.

Dafür müssen Anlegerinnen und Anleger mit der Zyklizität des Geschäfts umgehen können.

Das ist korrekt. Viele Kunden von Infineon befinden sich in sehr konjunktursensitiven Endmärkten, besonders in der Automobilindustrie. Natürlich gibt es hier Schwankungen. Infineon hat es dank einer tiefen Kostenbasis und der zunehmenden Diversifikation der Kundenbasis jedoch geschafft, sich ein Stück weit von der Zyklizität seiner Kunden abzukoppeln. Heute schaffen sie es selbst in Schwächephasen eines Zyklus, ihre Kapitalkosten zu verdienen – etwas, das vielen anderen Unternehmen dieser Branche nicht gelingt.

Sie haben auch LVMH im Portfolio. Was unterscheidet die Franzosen von anderen Luxuskonzernen?

LVMH wird extrem gut geführt. Für mich ist die Bindung an eine grosse Unternehmerfamilie ein Vorteil. Ein Luxusgüterkonzern zeichnet sich dadurch aus, sein Erbe aufrechtzuerhalten. Nur so gelingt es, den Anspruch hochzuhalten und das Image zu bewahren. LVMH versteht es hervorragend, die Geschichten seiner Marken zu pflegen. Zudem nutzt der Konzern die Gelegenheit, Marken mit geschwächtem Glanz zu übernehmen und sie wieder zu alter Stärke zu führen. Das haben sie etwa bei Tiffany & Co. bewiesen – eine amerikanische Luxusmarke mit tollem Namen, deren Potenzial zuvor allerdings nicht voll ausgeschöpft wurde.

Das schwache Chinageschäft belastete die Aktien von LVMH zuletzt.

Natürlich hat auch LVMH mit externen Einflüssen zu kämpfen, das ist ganz normal. Der chinesische Markt wurde immer grösser und wichtiger. Deshalb spiegelt sich die schwache Nachfrage aus China nun negativ in der Umsatzentwicklung wider. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Nachfrage aus China wieder zurückkehren wird.

Zur Person

Thorsten Winkelmann

Thorsten Winkelmann ist Chief Investment Officer für European and Global Growth Strategies bei der Vermögensverwaltungsgesellschaft AllianceBernstein. Bevor er 2024 zu AB kam, war er mehr als zwanzig Jahre bei Allianz Global Investors tätig, wo er CIO des Global Growth Teams und Portfoliomanager für die Global Equity Growth und Europe Equity Growth Strategien war. Davor war Winkelmann Portfoliomanager in den Allianz Global Investors European Equity Core und Multi-Asset Teams. Er hat einen MA in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Bonn.

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