Sollen Anleger vor allem auf die Wachstumserwartungen achten oder auf die vergangene Unternehmensentwicklung? Neben dem vorwärtsgerichteten Kurs-Gewinn-Verhältnis gibt das vergangenheitsbezogene Shiller-KGV Aufschlüsse darüber, ob Aktien günstig oder teuer sind.
Was ist in Mode und was ist out? Diese Frage stellt sich nicht nur auf den Laufstegen in Paris oder Mailand, sondern auch am Finanzmarkt.
Ein probates Mittel, um Aktien einzuordnen, liefert das Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis. Dieser Bewertungsmassstab geht auf den US-Ökonomen und Nobelpreisträger Robert J. Shiller zurück und basiert auf dem Durchschnitt des inflationsbereinigten Gewinns, den Unternehmen über die letzten zehn Jahre erzielt haben. So sollen starke Schwankungen oder zufällige Ausschläge geglättet werden.
Ein Massstab für Zykliker
Das vergangenheitsbezogene Shiller-KGV eignet sich speziell für zyklische Werte. Denn diese haben ihre eigene Dynamik. Gemessen am historischen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) scheint das Segment im Hoch eines Zyklus, wenn die Unternehmen ihre Gewinnkraft voll entfalten können, besonders günstig zu sein. Umgekehrt wirken sie im Tief, wenn der Gewinn in den Keller gesunken ist, sehr teuer – obwohl sie genau dann, kurz bevor ein neuer Aufschwung beginnt, kaufenswert sind.
In solchen Fällen ist das Shiller-KGV dank seiner glättenden Wirkung grundsätzlich ein dienlicherer Massstab. Wie andere Bewertungsformeln ist es indessen im Kontext zu interpretieren: Unter Umständen liefert ein tiefes Shiller-KGV nicht einen Hinweis auf eine günstige Kaufgelegenheit, sondern ist ein Warnsignal.
Märkte unterliegen dem Wandel. Disruptive Innovationen oder sukzessive Veränderungen der Marktbedürfnisse können dazu führen, dass ein Unternehmen die technologisch führende Position verliert oder ein Geschäftsmodell nicht mehr so gut funktioniert wie zuvor. In solchen Fällen kann das vergangenheitsbezogene Shiller-KGV nicht zu Rate gezogen werden.
Adecco versus Ems-Chemie
Gegensätzliche Beispiele liefern der Personalvermittler Adecco und Ems-Chemie. Beide zählen zu den Zyklikern, beide durchlaufen derzeit eine herausfordernde Phase. Und das Shiller-KGV von beiden Aktien hat in jüngster Zeit gegenüber der Zehnjahreshistorie ein Tief markiert: Bei Adecco beträgt es 8 und ist so hoch wie das KGV auf Basis des für 2025 geschätzten Gewinns.
In den ersten neun Monaten von 2024 sank der Gewinn des Personalvermittlers um 11%. Im Markt wird inzwischen mit einer Dividendenkürzung gerechnet, wodurch auch die bisher überaus hohe Dividendenrendite sinken würde.
Wie attraktiv ist das Geschäft noch?
Die grundsätzliche Frage lautet, ob das Geschäftsmodell mit der Vermittlung insbesondere von Temporärstellen noch so attraktiv ist wie früher. Die Zahlen sagen nein. Der Gewinn von Adecco dürfte 2024 etwa halb so hoch wie 2014 ausgefallen sein, bei allen zyklischen Schwankungen scheint der langfristige Trend nach unten zu zeigen. In fünf von zehn Jahren hat die Rendite auf das investierte Kapital gemäss Bloomberg die Kapitalkosten nicht gedeckt, womit das Unternehmen Aktionärswert vernichtet hat.
All das findet eine Bestätigung in der langfristigen Kursentwicklung: Seit dem Frühjahr 2000, als ein Hoch von 151.60 Fr. erreicht wurde, befindet sich der Aktienkurs im Grunde im Sinkflug – in diesem Januar ist er auf ein neues Tief von 20.32 Fr. abgerutscht.
Kein Zweifel bei Ems-Chemie
Anders sieht es bei Ems-Chemie aus: Das Shiller-KGV ist ebenfalls, wenn auch auf weit höherem Niveau als bei Adecco, nahe einem Zehnjahrestief und so hoch wie das gegenwärtige KGV für 2025. Das Unternehmen, zu rund 60% vom Automarkt abhängig, leidet unter der schwierigen Lage des europäischen Automobilsektors und der Verunsicherung, die der Wandel hin zur Elektromobilität bei Produzenten und Konsumenten bewirkt. 2024 dürfte der Gewinn von Ems knapp stagniert haben, doch langfristig zeigt der Trend nach oben.
Das Geschäftsmodell der Gruppe funktioniert zweifelsfrei: Das belegt der konstant hohe freie Cashflow oder die Rendite auf das investierte Kapital, die zuverlässig die Kapitalkosten übertrifft. So wird Mehrwert für die Aktionäre geschaffen. Im Fall der Ems-Aktien kann das tiefe Shiller-KGV ein Argument für einen Einstieg liefern.
Doch nicht nur bei der Bewertung zyklischer Qualitätsaktien leistet das Shiller-KGV gute Dienste. Es lässt sich auch bei nicht-zyklischen Werten nutzbringend anwenden, wie sich bei Nestlé zeigt.
Das Beispiel Nestlé
Die Aktien des Nahrungsmittelkonzerns sind ausser Mode gekommen. Seit dem Allzeithoch Anfang 2022 haben sie 42% verloren. Im letzten Jahr gehörten sie mit einem Minus von 23% zu den grossen Verlierern und drückten damit als Schwergewicht die Performance des Leitindex SMI auf relativ magere 4%.
In der Folge ist die Bewertung von Nestlé stark gesunken, wie das Shiller-KGV zeigt: Es liegt mit 18 auf dem tiefsten Niveau der letzten zehn Jahre – das lässt sich als Kaufsignal werten, denn ungeachtet seiner Probleme verfügt das Unternehmen erwiesenermassen über eine konstant hohe Ertragskraft.
Das Management des Quantex Global Value Funds hat sich im Dezember denn auch entschieden, zum ersten Mal Aktien von Nestlé zu kaufen. Sie seien zwar nicht spottbillig, aber angesichts der Qualität und Sicherheit der Cashflows attraktiv, heisst es im monatlichen Anlegerbrief der Value-Investoren: «Die Probleme scheinen lösbar, denn Nestlé hat immer noch viele starke Brands und hohe Gewinnmargen».
Lindt & Sprüngli relativ tief bewertet
Im Bereich des Leitindex SMI sowie dem Mid-Cap-Index SMIM gibt es neben den bereits erwähnten weitere Titel, die gegenwärtig ein Shiller-KGV auf oder nahe dem tiefsten Stand der vergangenen zehn Jahre aufweisen. Dazu gehören diejenigen der Schokoladenhersteller Lindt & Sprüngli und Barry Callebaut.
Lindt & Sprüngli bietet nicht nur den Konsumenten, sondern auch den Anlegern eine hohe Qualität: Das Unternehmen konnte den Gewinn, mit wenigen Ausnahmen wie dem Covid-Jahr 2020, gegenüber der Vorperiode alljährlich erhöhen. Das zuverlässige Wachstum führt dazu, dass das vorwärtsgerichtete KGV auf Basis des für 2025 geschätzten Gewinns mit 33 deutlich tiefer ist als das vergangenheitsbezogene Shiller-KGV mit 47.
Barry Callebauts Schwäche
Die Schokoladenhersteller sind aber mit einer bedeutenden Veränderung in ihrem Marktumfeld konfrontiert: Der Kakaopreis hat sich in eineinhalb Jahren mehr als verdreifacht – was Lindt & Sprüngli soweit gut verkraftet hat.
Weit stärker davon betroffen ist Barry Callebaut, die auch mit Kakao handelt. Der höhere Kakaopreis bläht ihr Umlaufvermögen stark auf: Es stieg schon im letzten Geschäftsjahr, das im August 2024 schloss, von 5,5 auf 12,2 Mrd. Fr. Als Folge davon brach die Eigenkapitalquote von 34,3 auf 18,7% ein, während die Nettoschulden sich auf 3,8 Mrd. Fr. fast verdreifachten. Der Markt befürchtet, dass der Schokoladenhersteller in Bilanzprobleme gerät.
Mit der Preisentwicklung auf dem Kakaomarkt rückt auch eine altbekannte Schwäche von Barry Callebaut wieder verstärkt in den Fokus: Die relativ geringe Fähigkeit, freien Cashflow zu generieren. Das historisch niedrige Shiller-KGV der Aktien, die nach dem jüngsten Quartalsbericht von letzter Woche auf ein Mehrjahrestief gefallen sind, ist gut begründet.
Gross in Mode: Versicherungstitel
Sehr beliebt sind zurzeit die Aktien von Schweizer Versicherungen. Vor allem über das letzte halbe Jahr haben sie sich hervorgetan: Während der breite Schweizer Aktienmarkt in dieser Zeit unter dem Strich stagniert hat, haben sie alle ein kräftiges Kursplus verzeichnet. Die Aktien des grössten Schweizer Versicherers, Zurich Insurance, gewannen 14%, jene von Swiss Re 29% und die von Helvetia 23%. Swiss Life und Baloise schafften immerhin noch einen Kurszuwachs von mehr als 5%.
Versicherer haben Aufwind
Die hohen Dividendenrenditen sind ein Grund für die grosse Beliebtheit der Werte. Gemessen an der letztbezahlten Dividende rentierten sie zwischen 3,9% (Helvetia) und 4,8% (Zurich Insurance).
Ist also alles eitel Sonnenschein und kann es so weitergehen? Marktbeobachter meinen, die Versicherer fahren zusehends eine Schönwetterstrategie. Sie verfügen lediglich über eine schmale Kapitalbasis: Ihre Eigenkapitalquote lag per Ende 2023 zwischen 3,9% (Swiss Life) und 9,1% (Swiss Re).
Dafür gibt es eine Erklärung: Die Investoren fordern eine hohe Eigenkapitalrendite. Sie ist 2013 bei den erwähnten Versicherungen, mit Ausnahme von Helvetia, denn auch gestiegen – der einfachste Weg zu einer hohen Rendite besteht darin, das Eigenkapital zu reduzieren und knapp zu halten. Swiss Re war notabene die einzige in diesem Kreis, die Ende 2023 ein höheres Eigenkapital als ein Jahr davor ausweisen konnte. Bei den übrigen war es gesunken, trotz der in fast allen Fällen höheren Prämieneinnahmen.
Hoch bewertet
Ist es Zeit, gegenüber den Versicherern eine vorsichtigere Haltung einzunehmen? Bei Swiss Re und Helvetia ist das Shiller-KGV nach den starken Kurssteigerungen auf den höchsten Wert der vergangenen zehn Jahre gestiegen. Im Fall von Zurich Insurance wurde das Top gemäss Bloomberg im November erreicht. Am weitesten davon entfernt kursieren die Baloise-Aktien: Ihr aktuelles Shiller-KGV liegt etwas über der Mitte des Hochs vom April 2019 und des Tiefs vom September 2022.
Der Vorteil des Shiller-KGV besteht darin, dass es sich auf tatsächlich erwirtschaftete und nicht auf vorhergesagte Gewinne stützt sowie Schwankungen respektive Ausschläge glättet. Damit bietet es wertvolle Hilfe auch bei der Einschätzung der Bewertung der Aktien von Versicherungen, deren Prämienvolumen sich etwa im Gleichschritt mit der Konjunktur bewegen. Hier sendet es nun möglicherweise ein Warnsignal.