In Frankreich finden die WM im Geschwindigkeitsskifahren statt. Die Disziplin gehört zu den extremsten Sportarten – schon der kleinste Fehler kann fatale Folgen haben.
Vars ist eine kleine Gemeinde in den französischen Alpen. Der Ort zählt weniger als 600 Einwohner, doch einmal im Jahr wird er zum Mekka der Extremsportler. Dann treffen sich hier die schnellsten Skifahrer der Welt. Sie jagen Rekorde, kämpfen um den Titel – und rasen mit bis zu 260 km/h die Piste hinunter.
Auf der «Chabrières» findet zurzeit die Speed-Ski-Weltmeisterschaft statt. Die Strecke ist über einen Kilometer lang und weist ein Gefälle von bis zu 98 Prozent auf. Sie gilt als beste Speed-Ski-Piste der Welt und bietet die perfekten Bedingungen für Höchstgeschwindigkeiten. Für Speed-Ski-Fahrer ist sie das, was die Streif in Kitzbühel oder das Lauberhorn in Wengen für die Abfahrer der Alpinen sind. Doch auf der «Chabrières» geht es nicht bloss um den Weltmeistertitel, sondern auch um Prestige und um den ultimativen Rekord. Derzeit liegt er bei 255,5 km/h, aufgestellt im März 2023 vom Franzosen Simon Billy.
Latexanzüge, Vollvisierhelme und Spoiler
Im Speed-Ski gibt es zwei Kategorien. Die Einsteiger fahren das Speed Downhill; in dieser Disziplin wird mit herkömmlicher Skiausrüstung gefahren, und die Geschwindigkeiten sind ein bisschen niedriger. Die Königsdisziplin aber heisst Speed One (S1). Und hier fallen die Rekorde. Die Athleten tragen hautenge Latexanzüge, Vollvisierhelme aus Carbon, besonders steife Skischuhe für die maximale Kontrolle und über zwei Meter lange Ski. An den Unterschenkeln befestigen sie sogenannte Spoiler, die den Luftstrom glätten und für Stabilität sorgen.
Der Wettkampfmodus ist in beiden Kategorien denkbar simpel: Es gewinnt, wer die höchste Geschwindigkeit erreicht. Die Athleten starten stehend aus einer Rampe, gehen sofort in die Hocke und beschleunigen auf den ersten 200 bis 400 Metern. Dabei bringen sie die Arme eng an den Körper an, blicken mit dem Kopf nach unten und schiessen wie ein Pfeil die Piste hinunter. In einem definierten Abschnitt wird dann die Geschwindigkeit gemessen, danach erreichen sie den Auslaufbereich. Hier richten sich die Fahrer langsam auf und bremsen ab.
Die Fahrten dauern jeweils nur wenige Sekunden, aber sie verlangen höchste Konzentration. Schon der kleinste Fehler kann fatale Folgen haben. Das bekam die Schweizerin Seraina Murk am Donnerstag zu spüren.
Seraina Murk machte erst Skicross, bevor sie zum Speed-Ski fand
Murk gewann 2015 den Weltmeistertitel im Speed Downhill. Mittlerweile fährt sie in der S1-Kategorie; nach Vars ist sie mit grossen Zielen gereist. Doch ein Sturz im ersten Rennen zerstörte ihre Hoffnungen. «Der rechte Ski hat sich bei hohem Tempo verkantet», berichtet sie aus dem Spital. Die Diagnose: ein offener Trümmerbruch im Unterschenkel. Trotz schwerer Verletzung betont sie: «Speed-Ski ist kein gefährlicher Sport. Ich bin schon mit 230 km/h gestürzt, und es ist mir nichts passiert.»
Murk ist mit ihren 53 Jahren eine der älteren Fahrerinnen; mit Speed-Ski hat sie erst im Alter von 44 Jahren begonnen. Zuvor versuchte sie sich im Skispringen und fuhr erfolgreich Skicross. «Doch Kurven lagen mir nie», sagt sie. «Ich fahre lieber geradeaus. Die Geschwindigkeit hat mich schon immer fasziniert.» Sie suche ein gewisses Risiko und liebe Herausforderungen. Mit den schnellen Abfahrten teste sie ihre Grenzen – aber stets kontrolliert.
Marc Amann teilt Murks Faszination für hohe Tempi. Er spricht von einem «Rausch», wenn er mit über 200 km/h den Berg hinunterfährt. «Dieses Gefühl macht süchtig.» Seit seiner Jugend betreibt der 31-jährige Deutsche den Sport. Man müsse etwas verrückt sein, wenn man damit anfange, sagt er: «Wir gehen an unsere Grenzen und teilweise darüber hinaus.» Sein persönlicher Rekord liegt bei 242,5 km/h – kein Deutscher war jemals schneller. An den WM will er nun über 250 km/h schaffen. Amann ist zuversichtlich, er habe im vergangenen Jahr Fortschritte im Training erzielt und viel an seiner Ausrüstung verbessert.
Die Top-Nationen trainieren im Windkanal
Im Speed-Ski entscheidet jedes Detail über Sieg oder Niederlage. Die Ausrüstung spielt dabei eine zentrale Rolle – genauso wie das Wetter und die Pistenbeschaffenheit. Die Athleten vergleichen ihren Sport oft mit der Formel 1. «Material zu optimieren und zu testen, gehört einfach dazu», sagt Amann. Und auch darüber hinaus gibt es viele Parallelen.
Top-Nationen wie Frankreich, Italien und Schweden arbeiten mit professionellen Rennställen zusammen. Sie testen ihre Ausrüstung in Windkanälen, optimieren die Aerodynamik mit modernster Technik und nutzen 3-D-Druck für Detailverbesserungen.
Auch Marc Amann würde gerne im Windkanal trainieren. Doch weil Geschwindigkeitsskifahren keine olympische Disziplin ist, erhält er vom deutschen Verband kaum Unterstützung. Er finanziert sich selbst, arbeitet als Fotograf und steckt viel eigenes Geld in seinen Sport. Auch Seraina Murk trägt die Kosten grösstenteils allein und kämpft mit Materialproblemen. «Mein Helm ist veraltet, und die Spoiler sind zu wenig aerodynamisch. Andere Nationen werden unterstützt, wir basteln aufs Geratewohl.»
Für die Weiterentwicklung des Sports setzen beide darauf, dass Speed-Ski-Fahren bald olympisch wird. Die Chancen stehen gut, denn 2030 finden die Winterspiele in den französischen Alpen statt. Das Internationale Olympische Komitee (IOK) will in diesem Jahr entscheiden, welche neuen Disziplinen ins Wettkampfprogramm aufgenommen werden. Vars wäre der perfekte Austragungsort für Speed-Ski.
Doch es bleibt ein grosses Problem: Der Sportart fehlen Hochgeschwindigkeitsstrecken. Deshalb findet der vom Weltskiverband (FIS) organisierte Weltcup nur an wenigen Orten statt. In den Alpen ist Vars seit längerem die letzte Strecke, dazu kommen Rennen in Schweden. Geplante Wettkämpfe in Spanien und Andorra mussten in diesem Winter wegen Schneemangels abgesagt werden. Wenn es schon im Weltcup nur wenige Strecken gibt, wo sollen also bei künftigen Winterspielen die Rennen stattfinden?
Ein Unfall prägt das Image von Speed-Ski bis heute
Speed-Ski war schon einmal nah dran, olympisch zu werden: 1992 in Albertville war es eine Show-Disziplin – und spaltete die Meinungen. Die futuristischen Anzüge und die hohen Geschwindigkeiten faszinierten die Zuschauer. Kritiker störten sich aber an der kurzen Renndauer und der fehlenden taktischen Tiefe. Der Wettkampf reduziere sich auf eine einzige Frage: Wer ist am schnellsten?
Das IOK zweifelte an der Sicherheit des Sports – und zog nach den Spielen die Konsequenzen. Den Entscheid beeinflusst hatte ein tragischer Unfall: 1992 starb der Schweizer Nicolas Bochatay bei den Olympischen Spielen. Er prallte während eines Trainingslaufs auf einer öffentlichen Piste gegen eine Pistenraupe. Sein Tod prägt das Image von Speed-Ski bis heute. Fortan galt die Sportart als zu riskant, zu wenig spannend, zu gefährlich.
Marc Amann wünscht sich eine zweite Chance. Die Sportart sei heute viel weniger riskant, die Sicherheitsstandards hätten sich deutlich verbessert. Er hält die Gefahr von Speed-Ski-Rennen mittlerweile für geringer als jene bei alpinen Abfahrten. «Bei uns schlittern die Fahrer nach einem Sturz den Berg hinab. Abfahrer prallen oftmals ins Fangnetz – das kann zu schweren Verletzungen führen.»
Für Seraina Murk wäre es das Nonplusultra, wenn Speed-Ski olympisch würde. Sie sagt: «Dadurch entscheidet sich, ob die Sportart weiterwächst oder verkümmert.» 2030 wäre sie 58 Jahre alt. Ob sie dann noch Rennen fährt, lässt sie offen. Nach der schweren Verletzung will sie sich Zeit nehmen. «Der Kopf ist noch nicht bereit für einen solchen Entscheid.» Doch ihre Faszination für die Geschwindigkeit bleibt.