Welche Rolle spielen Stimmen in unserem Leben? Der Kulturtheoretiker Hans Ulrich Gumbrecht nähert sich einem unterschätzten Alltagsphänomen.

Der neue Essay des Kulturwissenschafters Hans Ulrich Gumbrecht, «Leben der Stimme», spürt dem nach, was im Unterschied zur Schrift keine feste Form oder Struktur hat. Kaum hat man eine Stimme vernommen, ist sie auch schon wieder verklungen – es sei denn, sie wird mit den modernen Aufzeichnungsverfahren festgehalten. Dann kann es durchaus sein, dass sie ein Leben lang im Gedächtnis haften bleibt. Was ist ihr Geheimnis?

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Hans Ulrich Gumbrecht, in mehreren Sprachwelten zu Hause, skizziert eine Kulturgeschichte der Stimme: Sie reicht von den neuen Medientheorien bis zur platonischen Philosophie, die dem Dialog eine zentrale Rolle zuschreibt, von der Essayistik von Roland Barthes bis zu den biblischen Offenbarungen, in denen Gott sich als Stimme zu erkennen gibt. Auch heute noch geht der Pfarrer beim katholischen Hochamt, so weiss der ehemalige Ministrant, vom Sprechen zum Singen über, wenn seine Stimme an die Stelle der göttlichen treten soll.

Von Elvis Presley bis zu Adele

Auch jenseits von irgendeiner verständlichen Bedeutung kommt der Stimme für Gumbrecht eine wichtige kommunikative Funktion zu. Als Klang evoziert sie Stimmungen und Atmosphäre. So kann es durchaus geschehen, dass der Inhalt der Aussagen gar nicht unbedingt im Zentrum eines Gesprächs steht. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein wies schon auf die verborgene Verwandtschaft zwischen Musik und Sprache hin: «Das Verstehen eines Satzes in der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man glaubt.»

Als sich Hans Ulrich Gumbrecht überlegt, welche Stimmen ihn selbst am meisten bewegt haben, fallen ihm ausschliesslich Singstimmen ein – fünf Sänger, die je für einen Abschnitt seines Lebens stehen. Elvis Presleys Stimme begleitete ihn von der Kindheit in die Jugend, jene von Edith Piaf, als er in seinen Studienjahren die romanische Welt erkundete.

Die Brücke in die USA bildete «Me and Bobby McGee» von Janis Joplin. Und der Soundtrack von Whitney Houston bildete den Hintergrund, als Gumbrecht, mittlerweile Professor für Komparatistik an der Stanford University, im Jahr 2000 amerikanischer Staatsbürger wurde. Die Songs und vor allem die Stimme von Adele schliesslich holten ihn aus einer tiefen Depression und Lebenskrise heraus.

Verschmelzung im Klang

Seine Lektorin, schreibt Gumbrecht, habe die Stimme als «unordentliches Thema» bezeichnet. Zu Recht, findet er und bringt in seinem autobiografisch grundierten Essay doch einige Ordnung in das flüchtige und wohl deshalb unterschätzte Alltagsphänomen. Sein vorsichtig formuliertes Fazit: Stimmen bringen unsere Nähe zu anderen Menschen zum Ausdruck und verbinden unsere materiellen Existenzen miteinander. Sie stellen eine Art körperlichen Kontakt her. Dabei können sie auch befremden: Gumbrechts Vater, ein angesehener Chirurg in Würzburg, hatte eine dermassen hohe Fistelstimme, dass es seinen Sohn schmerzte, sie zu hören.

«Da Singen anders als Sprechen der Bedeutung nur eine zweitrangige Bedeutung zuweist», entstehe im Klang schneller und einfacher ein Kollektivgefühl, ja ein Kollektivkörper. Das Individuum kann sich im Klangerlebnis – sei es in der Oper oder im Fussballstadion – mit der Masse eins fühlen, ohne über Begriffe, Argumente oder Meinungen streiten zu müssen.

Auf solche Effekte der Verschmelzung mit den Lieblingsstimmen geht Gumbrecht am Schluss seines klugen Essays ein. Dort macht er auch deutlich, weshalb ihn selbst angenehme, warme Sprechstimmen wie die des grossen Philosophen Hans-Georg Gadamer nicht so zu fesseln vermochten wie die fünf Singstimmen, an die er sich im Alter von 77 Jahren noch lebhaft erinnert.

Hans Ulrich Gumbrecht: Leben der Stimme. Ein Versuch über Nähe. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 268 S., Fr. 43.90.

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