Mit 27 Jahren fühlt sich die Ostschweizer Tennisspielerin bereit dazu, erstmals ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen. Wird ihr das nun schon in Melbourne gelingen? Zum Auftakt trifft sie auf eine frühere French-Open-Siegerin, doch es gibt ein gutes Omen.
Am Sonntag beginnt in Melbourne mit dem Australian Open die Tennis-Saison 2025 so richtig. In den beiden Hauptfeldern des Frauen- und Männer-Turniers sind mit Belinda Bencic, Viktorija Golubic, Stan Wawrinka und Dominic Stricker vier Schweizer Athleten dabei. Jil Teichmann und Rebeka Masarova, die in den vergangenen Jahren für Spanien startete, scheiterten in der letzten Runde der Qualifikation. Bei den Männern fehlten Jérôme Kym zwei Siege, um sich erstmals für das Hauptfeld eines Major-Turniers zu qualifizieren.
Sieben Jahre sind vergangen, seit Roger Federer in Melbourne seinen 20. und letzten Grand-Slam-Titel gewonnen hat. Stan Wawrinka war vier Jahre zuvor mit seinem Turniersieg in Melbourne der Durchbruch zum Weltklassespieler gelungen.
Der Romand liegt im Ranking noch auf Position 158 und steuert auf seinen 40. Geburtstag zu. Seine Auslosung heuer in Melbourne ist alles andere als einfach. In der ersten Runde trifft er auf den Italiener Lorenzo Sonego, gegen den er zwar das bis dato einzige Duell gewonnen hat, der im Ranking aber 104 Plätze vor ihm liegt. Zweiter Gegner wäre der russische Top-Ten-Spieler Andrei Rublew.
Vom Wunderkind zum Problemfall
Die Zeit, in der an den vier Major-Turnieren mindestens ein Schweizer oder eine Schweizerin zum Kreis der Titelanwärter gehört hat, ist längst vorüber. Wenn jemandem, dann traut man es heute allenfalls Belinda Bencic zu, in die zweite Woche eines Major-Turniers vorzustossen. Die 27-jährige Ostschweizerin befindet sich immer noch am Anfang ihres Comebacks. Im vergangenen April war sie erstmals Mutter geworden, die Tochter Bella reist mit ihrer Familie um die Welt.
In der Talkshow «Gredig direkt» des Schweizer Fernsehens sagte Bencic am Donnerstag: «Bella ist voll in unsere tägliche Routine integriert. Ich habe mir den Alltag als Mutter schwerer vorgestellt, als er es dann wirklich war. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen wird. Deshalb zögerte ich auch lange damit, einen definitiven Termin für mein Comeback festzulegen.»
Bencic war fast ein Jahr von der Tennis-Tour weg. Sich ganz aus der Szene zurückzuziehen, war für sie nie ein Thema, obwohl sie das Familienleben genoss. Im August hatte sie in einem ihrer ersten Interviews nach der Niederkunft der «NZZ am Sonntag» gesagt: «Es hat sich vieles verändert, aber alles eigentlich zum Guten. Manchmal kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, was wir da mit unserer Zeit alles gemacht haben, ehe Martin (Hromkovic, ihr Partner, die Red.) und ich Eltern geworden sind. Sicher ist vieles anstrengender. Insgesamt erachte ich es aber als riesige Bereicherung, Bella an unserer Seite zu haben.»
Bencic scheint durch ihre neue Rolle als Mutter gereift. Sie strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, die ihr zuvor auf dem Tennisplatz oft gefehlt hat. Lange war sie sich selber die härteste Gegnerin gewesen. Lief ein Match nicht nach ihren Vorstellungen, begann sie zu hadern, zu toben, und meist verlor sie früher oder später die Konzentration und noch später auch den Match.
Bei «Gredig direkt» sagte sie: «Ich trage zwei Persönlichkeiten in mir. Aber im Prinzip bin ich eine ruhige, ausgeglichene Person. Doch auf dem Platz kann ich völlig die Kontrolle verlieren. In solchen Momenten nehmen die Emotionen überhand. Manchmal brauche ich solche Situationen auch. Das bin ich. Es ist mir immer noch nicht egal, wenn ich verliere.»
Bencic kannte bis jetzt kaum etwas anderes als das Leben auf dem Tennisplatz, schon als Kleinkind begleitete sie ihre Eltern auf den Court. Irgendwann hatte sie dann selbst einen Schläger in der Hand. Der Ruf, ein grosses Talent zu sein, eilte ihr früh voraus. Sie trainierte in Horgen unter der Aufsicht von Melanie Molitor, der Mutter von Martina Hingis. Mit der Trübbacherin wurde Bencic früh verglichen.
Mit 14 Jahren bestritt Bencic in Luxemburg ihren ersten Match auf der WTA-Tour, drei Jahre später stürmte sie an ihrem ersten US Open bis in die Viertelfinals. Der «Blick» zeigte sie als Lady Liberty, die Freiheitsstatue mit Bencics Gesicht. Der Himmel schien ihr Ziel, der Gewinn des ersten Major-Titels eine Frage der Zeit. Im Februar 2020 war sie die Nummer 4 der Welt.
Doch mit den Erfolgen kam auch der Druck. Die körperlichen Beschwerden begannen sich zu häufen. Das Tennisspielen wurde vom Spass zur Pflicht. Aus dem Wunderkind wurde unversehens ein Problemfall. Erst ihre Handgelenkverletzung und die längere Pause, welche diese nach sich zog, hätten ihr gezeigt, wie wichtig ihr das Tennisspielen noch immer war, sagte Bencic. «Ich wurde nie dazu gezwungen, es war immer meine freie Entscheidung, auch wenn ich die Freude daran vorübergehend etwas verloren hatte.»
Bencic wehrt sich gegen das Klischee, eines jener Tenniskinder gewesen zu sein, die nicht dem eigenen Willen, sondern dem ihrer Eltern folgten. Der ehemalige amerikanische Superstar Andre Agassi erzählte jüngst der NZZ, wie sehr der Zwang dazu, auf dem Platz zu stehen und einem Bild zu entsprechen, ihn belastet habe. Er rutschte deshalb in die Drogen ab und wäre daran fast zerbrochen.
Bencic sieht sich nicht in dieser Kategorie. «Mein Vater war immer dabei. Er kennt mich in- und auswendig. Doch als der Ablösungsprozess begann, liess er mir zusehends Raum, auch wenn er bis heute in meinem Umfeld präsent ist. Er ist der wichtigste Mensch in meiner Karriere. Ohne ihn wäre ich nicht, wo ich bin.»
Mit Olympiamedaillen die Reifeprüfung bestanden
Bencic ist seit Oktober wieder auf der Tennistour. Kurz vor dem Jahreswechsel erreichte sie am WTA-Turnier in Angers ihren ersten Final nach dem Comeback. Sie verlor ihn gegen die Amerikanerin Alycia Parks; im dritten und entscheidenden Satz unterlag die Schweizerin 0:6.
Es war ein Zeichen dafür, dass selbst für ein Ausnahmetalent wie Bencic die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Doch ihre Ambitionen sind ungebrochen. Im Interview mit der «NZZ am Sonntag» hatte sie gesagt, es bleibe weiterhin ihr grosses Ziel, irgendwann ein Major-Turnier zu gewinnen: «Ich habe noch einige gute Jahre vor mir. Und ich habe in meiner Kindheit und Jugend zu viel und zu hart gearbeitet, um bereits jetzt loszulassen und nur noch zu geniessen. Ich denke, es liegt für mich noch einiges drin.»
2021 hatte Bencic an den Olympischen Spielen in Tokio Gold im Einzel und mit Viktorija Golubic Silber im Doppel gewonnen. Es war eine Art Reifeprüfung für einen Kind-Star, der erwachsen geworden ist. Der Olympiasieg war für sie auch eine Bestätigung. Und nun möchte sie ihr nächstes Ziel erreichen. Wird ihr dies schon in den kommenden zwei Wochen in Melbourne gelingen?
Ihr Anlauf dazu beginnt am Montag mit dem Erstrunden-Match gegen Jelena Ostapenko. Das tönt nach einer schwierigen Aufgabe. Die Lettin ist die Nummer 17 im Ranking und wie Bencic 27 Jahre alt. 2017 hatte Ostapenko in Paris überraschend das French Open gewonnen. Doch vor fünf Jahren verlor sie in Melbourne gegen Bencic. Wenn das kein gutes Omen für die zweite Karriere der Schweizerin ist.