Enorm hohe Verluste haben die Russen noch nie von der Fortsetzung eines Krieges abgeschreckt. Es wird einen anderen Grund brauchen, damit endlich Frieden einkehrt.
Das Tempo der Zerstörung von Städten und von zivilem Leben in der Ukraine nimmt zu.
In Charkiw gab es in einer einzigen Nacht mehr als fünfzig Explosionen. Mein Freund fand geschmolzene Metallstücke auf seinem Balkon. Er hatte Glück, denn die Bombe schlug in einen Betonkeller vor dem Gebäude ein, und die Schrapnellfontäne spritzte nach oben und nicht zur Seite. In der Nachbarwohnung brannte sich ein Bombensplitter durch einen Kleiderschrank und die Wand dahinter. Das Teil verschmolz mit einem Plastikteppich auf dem Boden. Es handelte sich um ein sauberes Metallquadrat von eineinhalb mal eineinhalb Zentimetern. Was heisst, dass die Bombe voller Schrapnells war, die so viele Menschen wie möglich töten sollten.
Ein anderer Freund von mir hatte ebenfalls Glück: Die Bombe traf nächtens nicht sein Haus, sondern das Haus nebenan, wobei das sechste bis neunte Stockwerk in Flammen aufging. Am Morgen war das Feuer bereits gelöscht. Gerade wirft jemand Dinge vom Balkon im sechsten Stock: einen Blumentopf mit Geranie, einen Couchtisch. Und auch einen Satz bunter Kochtöpfe, die fallend in der Sonne glitzern. Auch eine Decke gleitet langsam herunter und flattert im Wind. Weiter oben, aus dem Loch, das einst der siebte Stock war, schaufelt jemand verkohlte Mauerstücke ins Freie. All das fällt auf einen grossen Haufen, in dessen Schichten sich das Leben der Menschen sammelt.
Im Zentralpark von Charkiw spielen vier Männer Tennis. Plötzlich sind da drei ohrenbetäubende Explosionen. Drei von den Männern lassen sich auf den Sand fallen. Der vierte steht unschlüssig mit dem Schläger in der Hand. Dann erfolgt eine vierte Explosion, die lauteste von allen, und über ihnen fliegende Schrapnells zerfetzen Äste von nahen Pappeln. Nun geht auch der vierte Mann zu Boden. Ein paar Minuten später erheben sie sich. «Spielen wir nun zu Ende oder nicht?», fragt einer.
Der Platz ist mit Granatsplittern übersät. Die Splitter sehen aus wie die Zähne eines Stahlkiefers. Einige von ihnen sind ziemlich gross, wie mein beistehendes Foto zeigt. Solche Teile können den menschlichen Körper so leicht durchschlagen, als wäre er ein Blatt Papier.
Bauchreden mit Putin
Ich lese Gedichte für die Juli-Ausgabe des «Poetry Magazine» vor. Es handelt sich um Gedichte eines Charkiwer Dichters über den Krieg, von mir ins Englische übersetzt. Ich nehme mein Rezital mit meinem Smartphone auf und brauche Ruhe, aber als ich eine Zeile über die Luftschutzsirene lese, geht vor meinem Fenster tatsächlich eine echte Luftschutzsirene los. In Charkiw ist es schwierig, einen Zeitpunkt zu finden, an dem diese Sirene nicht ertönt, also mache ich weiter. Zum Glück sind unsere Fenster gut schallisoliert.
Dieser Krieg hat viele Gedichte und Lieder hervorgebracht, auf beiden Seiten.
Ich höre mir manchmal Gedichte und Lieder an, die von der anderen Seite der Front stammen. Die Texte der Russen scheinen von einer KI geschrieben worden zu sein, die auf sehr wenig Material trainiert wurde – lediglich auf die Reden von Putin und seinen Propagandisten.
Ein übergewichtiger, einbeiniger Russe singt: «Furchtlos und wütend haben wir die Nazis vernichtet, wir haben keine Gnade gezeigt! Warum sollten wir uns ihrer erbarmen? Weil sie arme alte Menschen töteten und Kinder vernichteten?»
Ein anderer Russe, ein Mann mit wütendem Gesicht, trägt sein Gedicht vor: «Ja, mein Unterfangen ist ein Tal des Todes. Und ich werde das Böse darin nicht fürchten. Ich umklammere mein Maschinengewehr. Und glaubt ja nicht, wenn sie sagen, ich gäbe auf. Ich bin ein Besetzer, auch wenn ich als Dichter geboren wurde. Und deshalb werde ich ausharren.»
Der grösste russische Dichter, Alexander Puschkin, hat einmal gesagt, dass die Poesie ruhig ein bisschen albern sein dürfe. Aber so albern nun auch wieder nicht. Selbst eine sehr schlechte KI würde logischer schreiben.
Einem anderen Russen wird die Frage gestellt: «Wofür kämpfst du noch, wo die Kämpfe doch schon mehr als drei Jahre andauern?» – «Ich habe eine einfache Antwort», antwortet er selbstbewusst. «Für die Leute, die in der Nähe sind.» Das ist der reine Wahnsinn: Ich kämpfe für dich, damit du für mich kämpfst, damit ich weiter für dich kämpfen kann . . .
Wahnsinn auch, weil die Leute, die in der Nähe sind, die Leute, für die er kämpft, bereits eine Million weniger sind: Seit dem 12. Juni hat die russische Armee mehr als eine Million Mann Verluste. Gott hat Sinn für Humor: Der 12. Juni ist ein grosser russischer Nationalfeiertag.
So rangiert die «militärische Sonderoperation» nun auf der Liste der fünf blutigsten Kriege in der russischen Geschichte. Hinter dem Zweiten Weltkrieg, dem Ersten Weltkrieg, dem Bürgerkrieg und dem Krieg gegen Napoleon. Jetzt steht Putin mit dem Korsen auf einer Stufe – nicht nur, was die Körpergrösse angeht, sondern auch in der Menge des vergossenen Blutes.
Eine ganze Menge Männer
Natürlich ist die Zahl von einer Million eine ungefähre Zahl. Sie umfasst nicht nur die Gefallenen, sondern auch die Schwerverletzten, die nicht mehr in den Dienst zurückkehren werden. Diese Zahl kann von der Ukraine natürlich zu Propagandazwecken übertrieben sein. Andererseits existieren in einem der burjatischen Dörfer in Russland für 500 Einwohner 12 Gräber von Teilnehmern an der «speziellen Militäroperation». Das ist jeder zehnte gesunde Mann im wehrfähigen Alter, also eine ganze Menge.
Auf der Grundlage offener Daten gelang es der BBC, die Namen von 110 608 gefallenen russischen Soldaten zu ermitteln. Die Analyse von Todesanzeigen, Friedhöfen und militärischen Gedenkstätten deckt jedoch nur einen Teil der Toten ab, nicht mehr als die Hälfte.
Es ist schwierig, die Körper der Gefallenen vom Schlachtfeld wegzuschaffen, denn die Leichen sind schwer und müssen unter Beschuss fortgetragen werden, oft unter Einsatz des eigenen Lebens. Wenn es kalt ist, werden die Körper hart wie Holz und frieren im Boden und an anderen Körpern fest. Wenn es heiss ist, beginnen sie schnell, Leichengift auszuscheiden und sich zu zersetzen. Eine unvorstellbare Anzahl von Leichen bleibt auf den Feldern und in den Wäldern zurück; Gras und Sträucher schiessen aus ihnen heraus.
Wenn wir also die Zahl 110 608 mit 2 multiplizieren und weitere 25 000 tote Bewohner der Volksrepubliken Donezk und Luhansk hinzufügen, kommen wir auf etwa eine Viertelmillion Kriegstote. Da es in der Regel dreimal so viele Verwundete gibt, können wir diese Zahl vervielfachen, um die Gesamtzahl der Verluste zu erhalten. Nach groben Schätzungen etwa eine Million.
Am 28. Mai sagte der ehemalige russische Präsident Medwedew, dass in den ersten fünf Monaten des Jahres 2025 189 000 Rekruten in die russische Armee aufgenommen worden seien. Wenn das stimmt, dann unterschreiben pro Monat etwa 37 000 Leute einen Vertrag. Da die russische Armee eher langsam wächst, bedeutet dies, dass sich die Personalverluste auf etwa 1100 Personen pro Tag belaufen, was präzis mit den Daten der ukrainischen Seite übereinstimmt.
1200 Kriegstage multipliziert mit 1100 Personen pro Tag ergibt mehr als eine Million. In den ersten anderthalb Jahren des Krieges schlug Russland etwas weniger heftig mit dem Kopf gegen die ukrainische Wand. Eine Million ist also eine ziemlich plausible Zahl.
Verluste als Quelle des Stolzes
Leider werden die enormen menschlichen Verluste den Krieg nicht dem Ende näher bringen. Die russischen «Z»-Hurrapatrioten sind die Ersten, die an der Front sterben, und ihre Zahl wird immer geringer. Der Rest verflucht Putin und die russischen Militärbehörden, aber niemand denkt auch nur daran, sich zu widersetzen.
Aus vielen, oft sehr beängstigenden Gründen ist es für die «Kampfgraben-Orks», wie sie in der Ukraine genannt werden, einfacher, zu sterben, als sich einem Befehl zu widersetzen. In Russland werden mehr Knaben geboren, als Männer in den Schützengräben sterben, so dass Russland auch zwei Millionen, fünf Millionen, zehn Millionen Soldaten verlieren kann – wenn sich der Krieg über Jahrzehnte hinzieht. Für Russland sind riesige Verluste in Kriegen eine Quelle des Stolzes, nicht des Bedauerns, das war schon immer so.
Ein Ende des Krieges wird nicht kommen, weil Russland immer ärmer wird. Wenn Putin die Mittel ausgehen, wird er sich das Geld von den russischen Bürgern holen. Der Schmerz und die Wut über diesen Raub werden kompensiert durch die Stärkung der patriotischen Erziehung. Die richtige patriotische Indoktrination vermag alle materiellen Güter zu ersetzen.
Der Krieg wird auch nicht enden, weil die Ukraine die militärische Infrastruktur Russlands zerstört: Rüstungsfabriken, Flugplätze, Ölterminals, Brücken, Eisenbahnknoten. Zweifellos werden diese Aktionen noch intensiviert werden. Die Ukraine verfügt über mehr Raketen und Drohnen, als Russland Fabriken besitzt.
Ausserdem verfügt die Ukraine, wie die Operation «Spinnennetz» gezeigt hat, über eine enorme intellektuelle Überlegenheit und ist zu unkonventionellen Lösungen fähig. Russland ist dies nicht. Aber selbst wenn von den russischen Fabriken nur noch Trümmer übrig sind, wird Putins Armee weiter Fleischwolf-Angriffe durchführen und ukrainische Städte mitsamt ihrer Bevölkerung auszulöschen versuchen – mithilfe nordkoreanischer Granaten und mit chinesischer Elektronik ausgestatteter Drohnen.
Der Krieg wird nicht wegen der US-Hilfe für die Ukraine zu einem Ende kommen. Die älteste moderne Demokratie der Welt wird weiterhin mit dem Finger auf Putin zeigen, und ihr Präsident wird mit gewollt unscharfer Klarheit so etwas wiederholen wie: «Bald werde ich etwas tun, und viele werden überrascht sein über das, was bisher noch nicht getan wurde. Ich versuche zu verhindern, was niemand verhindern konnte, aber das ist Bidens Schuld, nicht meine. Es wird bald etwas geschehen, und Sie werden alle davon erfahren. Zwei Wochen werden vergehen oder vielleicht noch zwei Wochen oder vielleicht noch zwei Wochen, und Sie werden etwas sehen, was Sie noch nie zuvor gesehen haben.»
Doch jetzt, nach dem israelischen Angriff auf Iran, wird Trump nicht einmal mehr das sagen.
Es geht um die Freiheit
Dieser Krieg wird erst enden, wenn ein grosser schwarzer Schwan in Russland landet. Es könnte Putins Tod sein, ein unerwarteter Kollaps der Front, eine dramatische Veränderung der internationalen Lage, ein spontaner Protest, das Erscheinen eines neuen Führers, landesweite Unruhen, eine technische Havarie. China, das Anspruch auf Sibirien erhebt. Oder Mörder, die hordenweise aus dem Kampf zurückkehren, sich für die neue Elite der Nation halten und beginnen, ihre Landsleute zu töten, und wissen wollen: «Wo wart ihr, als wir euch vor den Banderiten verteidigt haben?»
Es könnte alles Mögliche sein, und es wird auf jeden Fall passieren. Der schwarze Schwan wird unweigerlich kommen, denn Putin zerstört Russland von innen, während die Ukraine und ihre Verbündeten das Land von aussen zerstören. Früher oder später wird der Koloss Risse bekommen und zusammenbrechen. Davon ist Russland noch weit entfernt, aber der Mangel an Geld, die Verluste an Menschen, die Zerstörung der militärisch-industriellen Infrastruktur und sogar das Fingerhakeln von jenseits des Ozeans lassen diesen Moment näher rücken.
In der Zwischenzeit muss die Ukraine weiter ihre Arbeit tun.
Im Gegensatz zu den Russen, die für wer weiss was kämpfen, kämpfen wir für die Freiheit, und deshalb stimmt der Mann, der unter den Trümmern eines zerbombten Hauses in Charkiw gefangen ist, die ukrainische Hymne an.
Nicht weil er ein Superpatriot oder gar Nationalist ist, sondern weil Freiheit etwas ist, das uns weder gegeben noch verweigert wird. Freiheit ist etwas, das wir erkämpfen müssen und das uns nicht weggenommen werden kann.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der ukrainischen Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.