Mittwoch, März 19

Rekordsüchtige Selbstdarsteller und schlecht qualifizierte Amateure beschädigen das Image des Alpinismus. Spitzenkletterer, denen schwierigste Expeditionen gelingen, könnten gegensteuern – doch ausgerechnet die Besten meiden oft jede Eigenwerbung.

2023 waren in den Bergen aussergewöhnliche Pionierleistungen zu bestaunen. Im Frühjahr gelang den Briten Tim Miller und Paul Ramsden die Erstbesteigung eines Gipfels, dessen Flanken teilweise so spitz zusammenlaufen wie jene des Matterhorns. Das Duo eroberte den 6563 Meter hohen Jugal Spire in Nepal über die Nordwand, wobei die Route bereits aus kurzer Distanz mit blossem Auge kaum noch zu erkennen war.

Im Sommer eröffneten die Schweizer Silvan Schüpbach und Peter von Känel in der Eigernordwand eine neue Route, ohne einen einzigen Bohrhaken zu setzen. Eigentlich schien an jenem Berg im Berner Oberland, an dem sich in den letzten Jahrzehnten so viele Dramen abspielten, längst jede mögliche Linie gemeistert zu sein – doch Schüpbach und von Känel bewiesen das Gegenteil.

Im Herbst schliesslich bezwangen die drei Amerikaner Alan Rousseau, Matt Cornell und Jackson Marvell die 2700 Meter hohe, äusserst steile Nordwand des Jannu, eines 7710 Meter hohen Berges in Nepal, ohne Fixseile oder ähnliche Hilfsmittel zu verwenden. An der Jannu-Nordwand waren einst unter anderem die Schweizer Ueli Steck und Erhard Loretan gescheitert.

Von all diesen Pionierleistungen zu erfahren, war Glückssache. Artikel in grösseren Zeitungen blieben Ausnahmen. Wenn der Alpinismus in den Medien thematisiert wurde, ging es eher um überfüllte Basislager an den 8000ern, Helikopterflüge mit Fertigpizzen an Bord, um ausbleibende erste Hilfe in der Todeszone oder um einen Zweijährigen am Mount Everest. Wer die Schlagzeilen las, konnte zum Eindruck gelangen, Bergsteiger würden immer amateurhafter, bequemer und rücksichtsloser.

Was im Himalaja passiert, wird in der medialen Auswahl und Aufbereitung zur Freak-Show verzerrt. Je skurriler oder empörender ein Ereignis ist, desto breiter wird es ausgewalzt. Gleichzeitig gehen die wirklich bemerkenswerten sportlichen Leistungen unter – und das ist nicht zuletzt auch die Schuld der Bergsteiger selbst. Denn allzu oft verzichten diese immer noch darauf, öffentlich über das zu sprechen, was ihnen gelungen ist.

Ramsden beispielsweise, der Erstbesteiger des Jugal Spire, hat schon mehrfach Bahnbrechendes vollbracht. Doch er verfügt über keinerlei Präsenz in den sozialen Netzwerken. Er sei, wie einmal die «Financial Times» über ihn schrieb, «praktisch allergisch gegen Selbstvermarktung».

Einerseits ist es Ramsdens gutes Recht, seine Projekte in weitgehender Anonymität umzusetzen und auf Werbeeinnahmen zu verzichten. Doch weil auch viele seiner Kollegen in den Bergen ihrer Leidenschaft nachgehen, ohne den geringsten Wert darauf zu legen, dass die Welt von ihren Leistungen erfährt, bekommt der Alpinismus ein Imageproblem. Wenn Pioniertaten untergehen, leidet die Legitimation fürs Bergsteigen, weil die Exzesse und Possen von Selbstdarstellern und Hobbyalpinisten an beliebten Gipfeln wie dem Mount Everest zum Normalfall verklärt werden. Das sollte auch Spitzenkönner wie Ramsden nicht kaltlassen.

Manchmal sind auch Alpinisten, die sich in der Einsamkeit am wohlsten fühlen, auf das Wohlwollen von Mitmenschen angewiesen. Zum Beispiel ganz schlicht, um überhaupt Zugang zu den ersehnten Bergen zu bekommen. Nicht nur in China oder Tibet waren die Behörden in letzter Zeit beim Erteilen von Einreisegenehmigungen äusserst zurückhaltend. Auch anderswo ist es notwendig geworden, verstärkt zu lobbyieren, um beispielsweise Bedenken von Umweltschützern entgegenzutreten.

Dem «täglichen sozialen Bullshit» entkommen

Oft liegt der medialen Zurückhaltung vieler Spitzenalpinisten nicht nur eine Unlust zugrunde, sich zu inszenieren, sondern sogar eine gewisse Verachtung der Öffentlichkeit. Das zeigt sich beispielhaft am Verhalten vieler Gewinner des Piolet d’Or, einer jährlichen Auszeichnung für herausragende Alpinisten. Immer wieder muss die Expertenjury hoffen, dass die Auserwählten den Preis überhaupt annehmen.

2006 hätten die Italiener Alessandro Beltrami, Rolando Garibotti und Ermanno Salvaterra mit dem Piolet d’Or für eine Besteigung der Nordwand des Cerro Torre geehrt werden sollen. Schnöde teilten sie mit, für sie sei das Erlebnis am Berg entscheidend gewesen. Dieses subjektiv zu bewerten, erscheine ihnen wertlos.

2007 verzichtete der Slowene Marko Prezelj auf den Preis, um ein Zeichen gegen den in seinen Augen falschen Wettbewerbsgedanken im Alpinismus zu setzen. 2010 tat es ihm der Pole Wojciech Kurtyka gleich. Er sagte zur Begründung, dass er stets in die Berge geflohen sei, um dem «täglichen sozialen Bullshit» zu entkommen. Und jetzt wolle man ihn zwingen, an diesem teilzunehmen.

Der Piolet d’Or strebt danach, eine Art Oscar des Bergsteigens zu sein. Dafür benötigte er jedoch Publizität. Doch die Feierlichkeiten sind Insiderveranstaltungen geblieben.

Deswegen verfehlt der Piolet d’Or auch sein übergeordnetes Ziel, der Allgemeinheit bewusstzumachen, wie sehr sich der Alpinismus gewandelt hat. Bergsteiger, die etwas auf sich halten, verzichten heutzutage auf Materialschlachten. Die Besten kommen ohne Fixseile, künstlichen Sauerstoff und sonstige Hilfsmittel aus, achten auf den Schutz der Umwelt und setzen alles daran, den Berg so zu verlassen, wie sie ihn vorgefunden haben.

Letztlich setzt die heutige Avantgarde der Bergsteiger um, was Reinhold Messner einst zum Ideal erhoben hatte. Der Südtiroler wurde in den 1970ern zur Legende, als er auf Sherpas zu verzichten begann und manchmal sogar allein loszog. Heute ist dieses ressourcenschonende, schnelle Vorankommen bei den ambitioniertesten Projekten zur Selbstverständlichkeit geworden. Was Messners Nachfolgern aber nicht zu einem guten Image verhilft, solange es kaum jemand erfährt. In Sachen Öffentlichkeitsarbeit kommt bis heute niemand an den Altmeister heran.

Nirmal Purja und Kristin Harila füllen eine Lücke

Die Schlagzeilen gehörten in den letzten Monaten stattdessen am ehesten Protagonisten, die keinerlei Anstrengungen unternahmen, Materialschlachten zu vermeiden. Der Nepalese Nirmal Purja bezwang die 14 8000er nach etlichen Helikopterflügen und Eilmärschen über breitgetretene, mit Fixseilen gesicherte Normalwege in sieben Monaten. Er wurde von der Norwegerin Kristin Harila übertrumpft, welcher das Kunststück in nur 92 Tagen gelang.

Beide wurden zu Recht berühmt. Purja gelang der Beweis, dass auch Sherpas, die sonst oft unbekannt bleiben, Starpotenzial besitzen. Und auch Harila sprengte Grenzen, zumal als Frau, die schneller war als alle Männer. Problematisch an ihrem Ruhm ist jedoch, dass beide nun in der Wahrnehmung der breiteren Öffentlichkeit den modernen Alpinismus verkörpern. Dabei füllen Purja und Harila letztlich vor allem eine Lücke: Jenen, die aufgrund ihrer Leistungen tatsächlich für sich in Anspruch nehmen könnten, den modernen Alpinismus zu personifizieren, mangelt es an Charisma und Willen.

Dass Purjas und Harilas bergsteigerischer Stil gegen die hohen Ansprüche der Branchenkollegen verstösst, ist kein Geheimnis: Fachseiten und Onlineportale sind voll von Kritik. Auch Alpinisten, die sich sonst selten öffentlich äussern, melden sich zu Wort, um ihrer Geringschätzung Ausdruck zu verleihen. Es entsteht der Eindruck, die Szene sei von Neid und Missgunst geprägt, was sie kaum sympathischer wirken lässt.

Gleichzeitig wird ein gewisser Standesdünkel offensichtlich, sobald externe Kritiker Dinge hinterfragen. Der deutsche Chronist Eberhard Jurgalski, welcher selbst kein Bergsteiger ist, wurde beschimpft und lächerlich gemacht, als er berechtigte Zweifel an gewissen alpinistischen Leistungen anmeldete. Dabei bemüht sich Jurgalski letztlich um eine Transparenz und Visibilität, die im Sinne jedes ehrlichen Alpinisten sein sollte.

Jedem Spitzenbergsteiger müsste daran gelegen sein, positive Geschichten in den Mittelpunkt zu rücken und ohne falsche Bescheidenheit Eigenwerbung zu betreiben. Zum ikonischen Bild sollte werden, wie Rousseau, Cornell und Marvell wohlbehalten den Gipfel des Jannu erreichen, nachdem sie die 2700 Meter hohe Nordwand bezwungen haben. Stattdessen ist zu erwarten, dass sich auch 2024 eher eine Aufnahme von einer Menschenschlange vor dem Khumbu-Eisbruch am Mount Everest ins kollektive Gedächtnis einbrennt.

Sein Leben in den Bergen zu riskieren, gilt zu Unrecht als verrückt: Warum Menschen vermeintlich irrationale Wagnisse eingehen, lässt sich erklären. Es hat einen tieferen Sinn, die letzten unbestiegenen Gipfel der Welt zu erobern und neue Routen begehbar zu machen. Sich ins Extreme zu wagen, liegt in der Natur des Menschen. Scheinbar Unmögliches zu versuchen, ist die Essenz ausgefüllten Lebens. Und wer Herausragendes schafft, sollte sich nicht dagegen wehren, gelobt und bewertet zu werden – oder auch hinterfragt.

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