Freitag, Oktober 18

Die EU verweigert der Schweiz eine einseitige Schutzklausel gegen Zuwanderung. Doch ohne Entgegenkommen der EU hat das Verhandlungspaket in der Schweiz keine Chance. Der Bundesrat muss deshalb weiterverhandeln.

Bilaterale Treffen zwischen Mittepolitikern haben ihre Tücken. 2017 herzte der damalige EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker (Christlich-Soziale Volkspartei) die CVP-Bundesrätin Doris Leuthard öffentlich und gab ihr dann den Tarif durch: Rahmenvertrag bis Frühling. Zuvor hatte er sie kurz zum Frühstück getroffen und sich eine Kohäsionszahlung über 1,3 Milliarden Franken in Aussicht stellen lassen.

Im Vergleich zu ihrer Vorgängerin ist die Ex-CVP-Bundesrätin Viola Amherd noch gut davongekommen. Am 3. Oktober hat sie sich mit EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU) in Genf getroffen, wiederum in aller Nächstenliebe. Am selben Abend konnte sie dann im «Blick» lesen, dass ihre Mitte-Freundin der Schweiz keine einseitige Ventilklausel zur Steuerung der Zuwanderung zugestehen wolle.

Leuthard reagierte sichtlich irritiert, als sie merkte, dass sie vorgeführt worden war. Viola Amherd hingegen ist unbesorgt. In einer Aktennotiz zuhanden des Bundesrats hielt sie fest, das Treffen mit von der Leyen sei viel erfreulicher verlaufen, als es die Medien danach dargestellt hätten. «Im Gegensatz zu dem, was die Presse suggeriert hat, fand das Treffen mit VDL in einer herzlichen Atmosphäre statt.»

Ob herzlich oder nicht: Der EU-Kommission ist es ernst. Am Dienstag hat deren Vizepräsident Maros Sefcovic in Brüssel unmissverständlich klargemacht, was er von der Schweiz erwartet: ein institutionelles Abkommen bis Ende Jahr. Und, ach ja, eine einseitige Ventilklausel kann die EU der Schweiz, die seit der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 um 1,7 Millionen Menschen gewachsen ist, nicht zugestehen. Und überhaupt: Ländersouveränität ist nicht alles.

In der Schweiz hat man die Botschaft aus Brüssel zwar vernommen, aber kaum jemand hat reagiert. Das ist bezeichnend für die Qualität der innenpolitischen Diskussion zu diesem Thema. Denn die EU hat ihre Position schon vor vielen Jahren klargemacht. Sie will ein geordnetes Verhältnis mit der Schweiz und Personenfreizügigkeit. Sie will, dass die Schweiz dynamisch EU-Recht übernimmt und dass der Europäische Gerichtshof europäisches Recht auslegen kann.

Unklare Signale aus Politik und Wirtschaft

Doch was will die Schweiz? Der Bundesrat hat zwar das Verhandlungsmandat offengelegt und sich grundsätzlich positiv zu den laufenden Verhandlungen geäussert, doch seither schweigt er. Um sich klarer zu positionieren, müsste er den Puls der Politik fühlen können. Doch ausser den Grünliberalen, die bedingungslos für das geplante Vertragswerk sind, und der SVP, die kompromisslos dagegen ist, drücken sich die Parteien um eine klare Haltung. Die Mitte sagt nichts, wenn sie es vermeiden kann. Die SP findet die Diskussion um die Schutzklausel überflüssig und lässt im Übrigen den Gewerkschaften den Vortritt. Bei der FDP wiederum spricht sich Präsident Thierry Burkart klar für eine Schutzklausel aus, offiziell will sich die Partei aber erst äussern, wenn das Verhandlungsresultat vorliegt.

Unklar sind auch die Signale aus der Wirtschaft. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, Swissmem, der Verband der Schweizer Industrie, und die Pharmabranche stehen klar hinter dem geplanten Abkommen. Gleichzeitig engagieren sich namhafte Unternehmer dagegen. Die Organisation Kompass Europa rund um die Gründer der Partners Group hat sogar kürzlich eine Initiative lanciert, die eine zu enge Anbindung der Schweiz an die EU verhindern will.

Die Gegner sind nicht grundsätzlich gegen geordnete Verhältnisse mit der Europäischen Union. Sie wehren sich bloss gegen den institutionellen Ansatz, der tief in die Schweizer Rechtsordnung und die Souveränität eingreift. Brüssel geht es um die eigenen Prinzipien, der Schweiz geht es um ihr Selbstverständnis. Die Schweiz ist zufrieden mit bilateralen Verträgen, die EU ist es nicht.

Um zu verstehen, weshalb das Verhältnis zwischen der Schweiz und ihren Nachbarn so angespannt ist, muss man fast zwanzig Jahre zurückblenden: Im Herbst 2007 begannen Bern und Brüssel darüber nachzudenken, ob sich das komplizierte Verhältnis nicht am besten in einem Rahmenabkommen regeln liesse.

Am 14. Dezember 2010 veröffentlichte der Rat ein Positionspapier, in dem er den bisherigen Austausch zwischen der EU und der Schweiz als ineffizient bezeichnete. Die Unübersichtlichkeit nehme zu, die einheitliche Anwendung der einzelnen Verträge sei nicht mehr gewährleistet, was «zu Rechtsunsicherheit für Behörden, Wirtschaftsakteure und mit den einzelnen Bürgern geführt» habe. Die Schweiz tauschte sich in der Folge auf informeller Ebene mit Brüssel über mögliche Lösungen aus und begann im Jahr 2014 mit den offiziellen Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU.

Schon nach kurzer Zeit zeigte sich, dass Brüssel und Bern nicht dieselben Erwartungen hatten. Die Stimmung wurde immer schlechter, und 2017 holte Juncker schliesslich zum Schlag aus: Die EU-Kommission setzte die Schweiz überraschend auf eine graue Liste für Steueroasen, die Schweizer Börse verlor die Äquivalenz, und auf die überraschte Frage der Eidgenossen, weshalb man denn nun so behandelt werde, sagte er das, was er immer zu sagen pflegte, wenn er der Schweiz keine Zugeständnisse machen wollte: «Nicht mit Juncker.»

Wer hat Angst vor der 10-Millionen-Schweiz?

Aus dieser Sackgasse haben die EU und die Schweiz nicht mehr richtig herausgefunden. Im Mai 2021 brach der Bundesrat die Verhandlungen mit Brüssel ab. Zwischen der Schweiz und der EU bestünden in zentralen Bereichen weiterhin substanzielle Differenzen, teilte er damals mit. Die Bedingungen für einen Abschluss seien deshalb nicht gegeben.

Die Beamten in Brüssel reagierten konsterniert auf den Affront, doch schon bald fanden wieder exploratorische Gespräche statt. Die Schweiz hatte gelernt. War sie ursprünglich davon überzeugt gewesen, dass ein Rahmenabkommen einzeln verhandelt werden und nicht mit anderen Geschäften verknüpft werden dürfe, änderte sie nun die Methode. Sie wählte den sogenannten Paketansatz, bei dem institutionelle Lösungen und neue Abkommen zusammengeschnürt und gleichzeitig verhandelt werden. Das hat den Vorteil, dass ein Interessenausgleich auch ganz am Ende von Gesprächen noch hergestellt werden kann.

Lange lief es gut. Die neuen Abkommen sind besser als das Rahmenabkommen. Noch vor kurzem sah es sogar danach aus, als stünden die Verhandler in Brüssel und in Bern kurz vor einem Durchbruch. Nachdem Maros Sefcovic der Forderung nach einer Ventilklausel erst einmal eine Abfuhr erteilt hatte («steht nicht im Verhandlungsmandat»), drehte der Wind. Die Kommission schien realisiert zu haben, dass ein institutionelles Abkommen in der Schweiz auch in Paketform nicht mehrheitsfähig ist, solange keine Lösung bei der Zuwanderungsfrage gefunden wird.

Doch diese Phase währte nicht lange: Am Dienstag hat der EU-Rat den Sachverhalt klargestellt: Es gibt keine einseitige Schweizer Schutzklausel. Die Abfuhr ist nicht unbedingt ein Nein zu Schutzmassnahmen. Die Schweiz könnte das Problem auch selbst regeln. Zum Beispiel, indem sie eine entsprechende Schutzklausel im Ausländergesetz oder in der Bundesverfassung verankern würde. Dies auch als Antwort auf die 10-Millionen-Schweiz-Initiative der SVP, die die Personenfreizügigkeit aufs Spiel setzt. Die Schweiz könnte auch versuchen, eine grenzüberschreitende Debatte über die Wanderbewegungen innerhalb der EU anzustossen. Denn viele europäische Länder sind ebenfalls an einer Schutzklausel interessiert. Der ehemalige Schweizer Staatssekretär Michael Ambühl hat kürzlich ein Modell vorgestellt, das sich an der EU-Nettomigration orientiert und in jedem europäischen Land angewandt werden könnte. Dies, ohne die Personenfreizügigkeit zu gefährden.

Entscheidend ist nun, dass die Schweiz bis zum Schluss entschlossen verhandelt. Denn das Freizügigkeitsabkommen, das die Schweiz mit der EU geschlossen hat, kennt die Möglichkeit einer Regelung der Zuwanderung. Der Bundesrat hat den Unterhändlern deshalb bereits im Verhandlungsmandat den Auftrag erteilt, diesen Spielraum zu nutzen und zu konkretisieren. Ganz taub ist die EU gegenüber den Anliegen der Schweiz nicht. Deshalb hat sie der Schweiz bereits Zugeständnisse beim Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern gemacht.

EU-Kommission nutzt den Zeitdruck, um Fakten zu schaffen

Die EU wollte die Verhandlungen ursprünglich bis im Juni beendet haben, dann setzte sie eine Frist bis Ende Jahr. Der Bundesrat sollte sich davon nicht beeindrucken lassen – auch wenn er der Frist ursprünglich selbst zugestimmt hat. Die EU-Kommission nutzte den Zeitdruck, um gemeinsam mit den Ländern Fakten zu schaffen.

Aussenminister Ignazio Cassis liess einem Sprecher kürzlich ausrichten, fertig verhandelt sei, wenn die Ziele des Bundesrats erreicht seien. Cassis weiss, dass das Vertragspaket erst mehrheitsfähig ist, wenn die EU bei der Zuwanderung Entgegenkommen zeigt. Die Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz kommt ziemlich sicher vor den EU-Verträgen an die Urne. Je schlechter das Verhandlungsresultat, desto besser sind die Aussichten für die SVP.

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