Pius Zängerle hat als Direktor des Krankenkassenverbands Curafutura die Gesundheitspolitik der letzten zehn Jahre mitgeprägt. Bis ein «grosser Schock» seiner Karriere ein Ende setzte.
Plötzlich ist keine Rede mehr von Blockade, plötzlich gelingt eine Reform nach der anderen. «Wie ein Staudamm, der gebrochen ist»: So beschreibt Pius Zängerle, was in der Gesundheitspolitik in den letzten 18 Monaten passiert ist. Als Direktor des Krankenkassenverbands Curafutura war er bis zu seinem Abgang vor ein paar Tagen nahe dran an diesen Entwicklungen. Manche davon hat er entscheidend vorangetrieben – «wie ein Wanderprediger».
Etwa den neuen Ärztetarif Tardoc, der 2026 kommen soll. Oder die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Mit der Abstimmung vom letzten November ist der Begriff «Efas» einem grösseren Publikum bekannt geworden. Und wer hat’s erfunden? Pius Zängerle (so erzählt er es zumindest selbst). Vorher war immer die Rede von einer «monistischen Finanzierung».
Die Blockade dauerte eine gefühlte Ewigkeit: Den ersten Vorstoss im Parlament für eine einheitliche Finanzierung gab es 2009, und der Ärztetarif galt ebenfalls seit langem als hoffnungslos veraltet. Es waren denn auch diese beiden Bereiche, die der damalige Curafutura-Präsident Ignazio Cassis als grösste Aufgaben präsentierte, als Zängerle vor genau zehn Jahren seinen Direktorenposten antrat.
Verkorkste Gesundheitspolitik
Zängerle war ein Quereinsteiger, ohne grosse Ahnung von Versicherungen. Vorher war er Spitalrat in Luzern, sass er für die CVP im Kantonsrat, präsidierte er das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) und den Gemeindeverband LuzernPlus. Erst nach ein paar Monaten wurde er sich bewusst, was er sich da eingebrockt hatte. Der ausgebildete Mathematiker und Ökonom nahm das System auseinander wie eine komplizierte Gleichung und kam zum Schluss: «Die Gesundheitspolitik liegt auf dem Rücken, vieles ist verkorkst.»
Alle hätten sich angefeindet. Insbesondere die Beziehung zwischen den Kassen und den Ärzten war laut Zängerle stark belastet. Zu Beginn habe er kaum ein vernünftiges Gespräch mit dem damaligen Präsidenten der Ärztevereinigung FMH, Jürg Schlup, führen können, sagt er. «Es kamen sogleich Vorwürfe, dass wir sowieso die Ärzte finanziell kaputtmachen wollten.»
Von da an traf sich Zängerle jeden Monat mit Schlup zum Mittagessen. «Wenn man in der Schweiz Erfolg haben will, muss man zuerst zusammen an den Tisch sitzen und zu verstehen versuchen, was das Gegenüber will. Man muss um Lösungen ringen, wir haben keinen Trump, der alles diktiert.»
Den Ärzten «nichts geschenkt»
Der kooperative Ansatz hat Zängerle Kritik von gewissen Krankenkassen eingebracht: Curafutura sei allzu nachgiebig gegenüber den Medizinern, hiess es. Zängerle und Co. verschleuderten Prämiengelder. Diese Vorwürfe habe er nie ernst genommen. «Ich weiss ja, wie hart wir verhandelt haben. Wir haben den Ärzten gar nichts geschenkt.»
Die Verhandlungen um den neuen Arzttarif dauerten mehrere Jahre. Für Zängerle war dabei wichtig, dass man, anders als beim bisherigen Tarif, nicht einfach ein neues System in die Welt setzte, das sich dann kaum mehr verändern lässt. «Mit diesem Tarif werden jedes Jahr 13 Milliarden Franken verteilt, das ist eine halbe Neat. Also müssen wir auch für den Unterhalt sorgen.»
Das ist die Aufgabe der 2022 gegründeten nationalen ambulanten Tariforganisation OAAT: Sie soll das Vergütungssystem fortlaufend an die Veränderungen in der Medizin anpassen. So dass nicht ein Arzt zu viel Geld für eine Behandlung erhält, die er dank dem technischen Fortschritt in viel kürzerer Zeit abschliessen kann.
Die aktive Rolle der Kassen
Zängerle hat die Krankenkassen nie als blosse Zahlstellen verstanden, sondern als Mitgestalter des Gesundheitswesens. Deshalb drängte er darauf, dass der neue Tarif die Haus- und Kinderärzte besserstellen soll. Sie verdienen mit dem alten System deutlich weniger als die Spezialisten.
Künftig gibt es etwa für das Betreuen chronisch kranker Patienten separate Tarifpositionen, das macht die Hausarztmedizin laut Zängerle wieder attraktiver. «Der Tarif ist das stärkste Instrument, um die Versorgung zu steuern. Und wenn wir die Grundversorgung stärken, hilft das auch den Prämienzahlern, weil wir so Kosten sparen.»
An der Koalition für Efas baute Zängerle seit dem Beginn seiner Amtszeit. Er sprach sich mit Ärztevertretern und Spital-Chefs ab, fuhr nach Genf oder St. Gallen, um mit den kantonalen Gesundheitsdirektoren zu diskutieren. Es war eine Allianz praktisch aller Akteure im Gesundheitswesen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hatte und wie es sie vielleicht auch nie mehr geben wird. Und das war auch nötig: Das Volk sagte nur relativ knapp Ja zu Efas.
Bei einem Nein wäre der Scherbenhaufen gigantisch gewesen. «Wenn man nicht einmal in dieser Konstellation eine Reform hinkriegt, was soll denn sonst für ein Fortschritt gelingen?», fragt Zängerle. Umso mehr hat ihn der Widerstand des früheren SVP-Nationalrats und Santésuisse-Präsidenten Heinz Brand irritiert, der beinahe dazu geführt hätte, dass sich auch die SVP gegen Efas stellte.
Irritiert durchs welsche Staatsverständnis
Eine «hidden agenda» unterstellt Zängerle den Gewerkschaften bei ihrem Kampf gegen Efas. Die Argumente, dass die Prämien steigen würden oder die Kassen mehr Macht bekämen, seien nur vorgeschoben gewesen. Das wahre Problem der Gewerkschaften sei gewesen, dass Efas das System markant verbessere und damit stabilisiere. So drohe keine Revolution der Versicherten mehr. «Das geht jenen gegen den Strich, die für eine Einheitskasse und ein staatlich gesteuertes Gesundheitssystem sind.»
Ein solches Denken ist besonders in der Westschweiz vertreten. «Wir Deutschschweizer hingegen denken eher korporatistisch, das Prinzip der Subsidiarität ist zentral: Ich helfe mir zuerst selbst, und erst, wenn es nicht mehr anders geht, kommt die Solidarität der anderen zum Tragen», sagt Zängerle.
In den Mentalitätsunterschieden sieht Zängerle auch den Hauptgrund, warum er mit jenem Mann gar nicht zurechtgekommen ist, der bis 2023 die Geschicke der Gesundheitspolitik lenkte: Alain Berset. Der frühere SP-Bundesrat sei ein Etatist, er habe wenig Verständnis für Eigeninitiative oder den Wettbewerb. «Er vertraute den Ärzten kaum und konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie einem Tarif zustimmen, der ihnen nicht den maximalen Ertrag bringt – obwohl genau auf diesem Prinzip die Tarifpartnerschaft beruht.»
Selbstherrlicher Gesundheitsminister
Zängerle empfand Berset zudem als selbstherrlich: Er sei die grosse Eminenz gewesen, die allen gesagt habe, wie sie sich zu verhalten hätten. «Einmal hat er mich zu sich zitiert wie einen Schulbuben und mir alle Schande gesagt.» Die Leute im Bundesamt für Gesundheit seien von ihrem Chef eingeschüchtert gewesen. Die Versicherer, die Ärzte und die Spitäler wiederum seien mit Verzögerungen bei der Behandlung des Tarifs zermürbt worden. «Damit war Berset mitverantwortlich für die Blockade.»
Voll des Lobes ist Zängerle hingegen für Bersets Nachfolgerin Elisabeth Baume-Schneider, die seit Beginn des Jahres das Innendepartement führt. Unter ihr herrsche eine ganz andere Atmosphäre. «Wenn es einen runden Tisch gibt, kommt sie rechtzeitig, spricht freundlich mit allen Teilnehmern, hört zu.» Zum Durchbruch beim Ärztetarif habe Baume-Schneider ebenso massgeblich beigetragen wie zu den Mengenrabatten für umsatzstarke Medikamente, für die sich der Nationalrat am 10. Dezember ausgesprochen hat – eine weitere geglückte Reform, die Hunderte von Millionen Franken sparen soll.
Doch auch Pius Zängerle selbst ist eine umstrittene Figur. Manche sahen in seiner forschen Art und seinem Kleinkrieg mit Santésuisse ein Hindernis für den Fortschritt. Unter Gesundheitspolitikern, aber auch in den Führungsetagen der Krankenkassen wuchs der Unmut über den Umstand, dass sich die beiden Verbände immer wieder widersprachen.
Heimliche Verhandlungen
Hinter Zängerles Rücken verhandelten die Chefs der drei grossen Versicherer CSS, Helsana und Sanitas, die nach dem Abgang der KPT 2023 noch bei Curafutura geblieben waren, im Sommer mit Vertretern von Santésuisse-Kassen über die Gründung eines neuen Verbands. Erst kurz bevor die Abtrünnigen an die Öffentlichkeit gingen, erfuhr Zängerle von den Plänen und dem baldigen Aus für Curafutura – und vom Ende seiner eigenen Karriere.
«Wir waren schon lange am Thema Wiedervereinigung dran, aber so war es doch ein grosser Schock», erinnert er sich. Hat er sich verraten gefühlt? «Es waren anfänglich keine schönen Gefühle, ich hatte einige schlaflose Nächte.» Bald aber habe er versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Der neue Verband namens Prio Swiss hat den Mantel von Curafutura übernommen, ergänzt mit Elementen von Santésuisse. Und er beschäftigt viele Mitarbeiter mit ihrem ganzen Know-how weiter. Das sei eine gute Lösung, findet Zängerle.
Weil nun mit Efas und dem Ärztetarif die beiden grössten Streitpunkte vom Tisch sind, kann der neue Verband relativ unbelastet starten. Doch die Arbeit wird ihm nicht ausgehen. «Die Herausforderungen im Gesundheitswesen sind weiterhin gigantisch», sagt Zängerle. Die Schweiz stecke mitten in einer schweren Spitalkrise, und es stehe in den Sternen, wie sie gelöst werden könne.
«Werden die hohen Defizite einfach zugeschüttet mit dem Geld der Kantone, bei denen jetzt gerade die Einnahmen sprudeln dank der OECD-Mindestbesteuerung? Oder kommt es zur Strukturbereinigung, die wir seit zehn Jahren erwarten und auch verlangen?» Fraglich sei auch, ob die Spitäler selbst den Abbau der stationären Überkapazitäten und den Wandel hin zu einem Ausbau der ambulanten Kapazitäten vollziehen können – oder ob es dafür neue, dezentrale Einrichtungen brauche.
Reformbedarf bei der Pflege
Zängerle sieht noch viele weitere Baustellen, etwa die Langzeitpflege. Da brauche es angesichts des Alterns der Babyboomer dringend Lösungen für die Förderung des betreuten Wohnens. Oder die Kostenbeteiligung der Patienten: Nach 20 Jahren ohne Anpassung müsse die Mindestfranchise erhöht werden und künftig an die Kostenentwicklung geknüpft werden.
Es werden harte Diskussionen werden, aber sie finden ohne Pius Zängerle statt. Mit 62 Jahren verabschiedet sich der scharfe Analytiker, unfreiwillig und verfrüht. Doch er sagt, er schaue ohne Bitterkeit und Rachegefühle zurück. «Ich durfte zusammen mit anderen das Gesundheitswesen vom Rücken wieder auf die Beine stellen. Das ist ein schöner Abgang.»